LGBTQIA+ und die neue Bundesregierung: Queere Community fürchtet Backlash unter Merz
Vor dem Amtsantritt von Friedrich Merz als Bundeskanzler wächst in der queeren Community die Verunsicherung. Eins ist klar: Queere Belange haben keine Priorität.

Cami und ihr Umfeld sind mit diesem Gefühl nicht allein. Seit der Koalitionsvertrag von Union und SPD vorliegt, machen sich viele queere Menschen in Deutschland Sorgen. Besonders der zukünftige Kanzler Friedrich Merz wird in der Community mit Argwohn betrachtet. Bei einem TV-Duell vor der Wahl hatte dieser gesagt, die Entscheidung des US-Präsidenten Donald Trump, nur noch zwei Geschlechter anzuerkennen, könne er nachvollziehen.
Seit dem 1. November vergangenen Jahres können in Deutschland Menschen ihren Geschlechtseintrag beim Standesamt relativ unkompliziert ändern lassen. Auch die Union hatte im Wahlkampf, ähnlich wie Donald Trump, angekündigt, das Selbstbestimmungsgesetz wieder abschaffen zu wollen. Ganz so weit kommt es nun nicht. Im Koalitionsvertrag steht nur, man wolle das Gesetz evaluieren.
Im Koalitionsvertrag kommt das Wort Queer nicht mal vor
„Der Koalitionsvertrag äußert sich nur vage zu queerpolitischen Themen und vermeidet die Vereinbarung von klaren Vorhaben“, sagt Kalle Hümpfner vom Bundesverband Trans* auf Anfrage der taz. „Im aktuellen gesellschaftlichen Klima ist das ein falsches Signal. Wir brauchen ein deutliches Bekenntnis für die Akzeptanz von queeren Personen und konkrete Maßnahmen, die Diskriminierung abbauen.“
Auch wenn das Selbstbestimmungsgesetz vorerst erhalten bleibt: Weitere Verbesserungen, die trans Menschen seit Jahren einfordern und von der Ampelkoalition teils angekündigt worden waren, wird es mit der kommenden Regierung wohl nicht geben.
So hatte die Ampelkoalition geplant, den Artikel 3 des Grundgesetzes zu ändern und das Verbot von Diskriminierung aufgrund sexueller Identität ins Grundgesetz aufzunehmen. Die Ampel hätte für diese Grundgesetzänderung aber die Stimmen der Union gebraucht, die das ablehnte.
Unklar ist auch, ob es das Amt des:der Queer-Beauftragten, welches unter der Ampel erstmalig eingeführt wurde, weiterhin geben wird. Bisher gibt es zwar keine konkreten Pläne, allerdings hat die CDU angekündigt, einige Beauftragte zu streichen, weil es aktuell zu viele gebe. Der Queer-Beauftragte der Bundesregierung Sven Lehmann (Grüne) selbst hatte die Befürchtung in einem Interview mit der Siegessäule geäußert: „Dieses Amt ersatzlos wieder abzuschaffen, wäre eine Kampfansage an die LGBTIQ*-Community.“
Queere Belange haben wohl keine Priorität
Clara Thoms vom Vorstand der Lesbenberatung in Berlin sagt: „Wenn es das Amt nicht mehr geben sollte, wäre das ein klares symbolisches Signal, dass queere Anliegen in der Agenda der neuen Bundesregierung keine Priorität haben.“ Unklar sei daher auch, ob und wie queere Verbände und Vereine in Zukunft gefördert werden. Im vergangenen Jahr gab es vor allem in Berlin, wo viele Verbände angesiedelt sind, Kürzungen im kulturellen und sozialen Bereich.
„Queeren Initiativen und Vereinen Gelder zu streichen, trocknet der Zivilgesellschaft den Boden aus“, warnt Kalle Hümpfner vom Bundesverband Trans*. Und Thoms warnt: „Besonders besorgniserregend ist für uns, dass vor allem Organisationen, die sich für marginalisierte Gruppen einsetzen – wie zum Beispiel queere Menschen of Color, die gleichzeitig mit Rassismus und intersektionaler Diskriminierung konfrontiert sind – als Erste von Kürzungen betroffen sein könnten.“
Vereine hingegen, die größer sind und länger etabliert, müssten sich um ihre Finanzierung weniger Gedanken machen. Queere Personen, die von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind, seien daher aktuell besonders gefährdet.
Das spürt auch Dragqueen Cami und ihr Umfeld: „Auch der Umgang der Polizei mit uns ist härter geworden. Auf Demonstrationen kam es schon vor, dass wir unsere Meinung kundtun und Repression erleben. Das macht uns Angst.“
Es ist also nicht nur die neue Bundesregierung, die queeren Menschen Sorgen bereitet, sondern auch das gesellschaftliche Klima. Der aktuell hohe Druck auf queere Menschen wächst auch, weil „Transfeindlichkeit als Brückenideologie fungiert“, konstatiert Utan Schirmer. Als Soziologe forscht er schon lange im Bereich der Trans Studies.
Trans Menschen entscheiden sich, weniger sichtbar zu sein
Autoritär-rechte, fundamentalistisch-christliche sowie sich selbst als „gender-kritisch“-feministisch verstehende Gruppen (auch bekannt als trans excluding radical feminists oder TERFs) hätten sowohl auf Social Media als auch offline dazu beigetragen, dass „nicht nur die konkrete Gewalt gegen sie gestiegen ist, sondern auch die Sichtbarkeit von trans Lebensweisen abnimmt“, so Schirmer weiter. Es sei jetzt schon zu beobachten, dass mehr und mehr trans Personen sich entscheiden, weniger offen mit ihrem trans Sein umzugehen.
„Das hat unter anderem den Effekt, dass Kinder weniger trans Vorbilder haben.“ Trans Menschen würden als Ausnahme von der Norm betrachtet, als kleine Minderheit, die gesetzliche Regelungen benötigt, um ihre Identität anerkennen zu lassen. Schirmer schlägt vor, den Geschlechtseintrag für alle Menschen bei der Geburt zunächst offenzulassen oder ihn ganz abzuschaffen.
Auch im Selbstbestimmungsgesetz der Ampelkoalition erkennt Schirmer die Logik, trans Menschen als Ausnahme von der Norm zu begreifen: „In den Begründungen und Erläuterungen des Gesetzes wird immer wieder betont, dass sich damit lediglich für eine sehr kleine Minderheit etwas ändert, während die grundsätzliche Verfasstheit von Geschlecht vollkommen unberührt bleibt.“
Der als cis geschlechtlich vorgestellten Mehrheit werde versichert: „Für euch ändert sich rein gar nichts.“ Diese Botschaft würde durch verschiedene Gesetzesparagrafen, wie etwa den zum Hausrecht, verstärkt. Der dort enthaltene Hinweis, dass das Hausrecht beim Zugang zu Einrichtungen und Räumen unberührt bleibe, sei eigentlich überflüssig.
Damit würde aber signalisiert, dass die vermeintlichen Sorgen von cis Menschen ernst genommen würden und ihre Entscheidungsmacht bekräftigt werde. Die berechtigten Sorgen von trans Menschen, bei Zugängen diskriminiert zu werden, würden hingegen nicht adressiert.
Das Selbstbestimmungsgesetz: ein Erfolg, aber ausbaufähig
Trotz aller Kritik: Für das Selbstbestimmungsgesetz haben queere Initiativen lange gekämpft, auch gegen Desinformationskampagnen. Etwa sechs Monate nach der Einführung gebe es für das Gesetz große Zustimmung in der Zivilgesellschaft, so Kalle Hümpfner vom Bundesverband Trans. Doch auch Hümpfner mahnt weitere notwendige Verbesserungen an. So müsse das Abstammungsgesetz reformiert werden.
Bisher wird beispielsweise bei lesbischen Paaren nur die Person als Mutter in die Geburtsurkunde eingetragen, die das Kind geboren hat. Die zweite Person muss eine Adoption durchlaufen, um rechtlich anerkannt zu werden.
Aus trans Perspektive sei das Abstammungsrecht doppelt belastend, erklärt Kalle Hümpfner. Trans Männer und nichtbinäre Personen, die ein Kind gebären, werden trotz geändertem Geschlechtseintrag als Mutter eingetragen. Umgekehrt verhält es sich auch bei trans Frauen oder nichtbinären Personen, die ein Kind gezeugt haben. Dies würde auch im Alltag immer wieder zu Problemen führen, so Hümpfner. Auch bei dem Thema Gesundheitsversorgung gibt es Nachholbedarf.
Deutschland ist kein sicherer Hafen mehr für Queers
Noch immer ist die Kostenübernahme für medizinische Behandlungen bei nichtbinären Personen nicht geregelt. Binären trans Personen droht oft ein langer juristischer Weg, bis Kosten übernommen werden.
Pessimistisch schaut auch Cami in die Zukunft: „Vor ein paar Monaten haben wir besorgt in die USA geschaut, aber mittlerweile sage ich zu queeren Freund:innen, die nach Deutschland kommen wollen, tut es besser nicht …“
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