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Kyjiw statt KiewUkrainisch für Fortgeschrittene

Die taz nutzt nun die ukrainische Schreibweise für Kyjiw anstelle der russischen. Dass nur wenige hier sie kennen, liegt an fehlendem Wissen über die Kultur.

Das Unabhängigkeitsdenkmal der Ukraine in Kyjiw Foto: Sergei Chuzavkov/ZUMA/imago

Es sind nur ein paar Buchstaben – und doch ist es viel mehr. „Kyjiw“ schreibt die taz neuerdings, wenn es um die ukrainische Hauptstadt geht. Nicht mehr „Kiew“ wie bisher. Diese Änderung der Schreibweise ist Anlass für heftige Diskussionen, auch in der Redaktion. Aber die Entscheidung dazu wurde bewusst getroffen. Sie ist auch ein politisches Statement.

Um zu verstehen, worum es in der Debatte geht, hilft es, sich ein wenig mit der ukrainischen Sprache zu beschäftigen. Ukrainisch ist, wie Russisch und Belarussisch, eine ostslawische Sprache. Alle drei werden mit kyrillischen Buchstaben geschrieben. Bei der Transkription, also der Umschrift von kyrillischer in lateinische Schrift, gibt es feste Regeln.

„Kyjiw“ ist die Umschrift des ukrainischen Namens der Stadt (Київ), „Kiew“ die des russischen (Kиев). Manchmal wird bei der Transkription noch ein „j“ eingefügt, wie zum Beispiel beim russischen Schriftsteller Dostojewski. Bei „Kiew“ hat sich die Schreibung ohne „j“ durchgesetzt.

Die Ukraine ist ein mehrsprachiges Land, in dem neben Ukrainisch und Russisch auch etwa Ungarisch und Tatarisch gesprochen wird. Je nachdem, welche Sprache man verwendet, heißen die Städte auf Ukrainisch zum Beispiel Lwiw, Charkiw, Dnipro und Mykolajiw, auf Russisch hingegen Lwow, Charkow, Dnepro und Nikolajew. Manchmal sind die Unterschiede minimal, wie bei „Odesa“ (russ. Odessa) oder dem Kohlegebiet Donbas (russ. Donbass). Mariupol und Cherson hingegen heißen in beiden Sprachen gleich.

Ein Dekolonisierungskrieg

Schon seit Jahren plädieren Menschen und Organisationen in der Ukraine für die ukrainische Schreibweise ihrer Städtenamen im Ausland. Unter dem Hashtag #KyivnotKiev gab es dazu 2018 sogar eine Kampagne des ukrainischen Außenministeriums. In englischsprachigen Ländern hat sich „Kyiv“ bereits durchgesetzt. In Deutschland hingegen gilt „Kiew“ häufig noch als der „eingeführte“ Städtename.

Die Tatsache, dass die ukrainische Regierung so etwas überhaupt fordert, zeigt, dass sie mit ihrer Sprachkampagne sehr bewusst darauf abzielt, sich von der russischen Dominanz, auch der sprachlichen, zu lösen. Deshalb wird auf ukrainischer Seite der derzeitige Krieg häufig als Befreiungs- bzw. Dekolonisierungskrieg von der russischen Vorherrschaft gesehen.

Wenn die taz nun also „Kyjiw“ schreibt, tut sie das nicht, um den ukrainischen Nationalismus zu unterstützen oder einen angeblich „eingeführten“ Namen zu ändern, sondern um zu zeigen, dass sie das Ukrainische als eigenständige Sprache wahrnimmt und akzeptiert. So, wie sie auch schon lange Republik Moldau statt „Moldawien“ und seit 2020 Belarus statt Weißrussland schreibt.

Dass ein Text wie dieser überhaupt geschrieben wird, liegt auch am fehlenden öffentlichen Wissen über die Ukraine, ihre Sprache, Geschichte und Kultur.

Ukrainisch an Unis nur auf Anfängerniveau

Woran das eigentlich liegt, ist gar nicht so einfach zu erklären. Zwar kann man an einem Dutzend deutscher Universitäten Ukrainisch lernen, allerdings lediglich auf Anfängerniveau. Ein ukrainisch-deutsches Wörterbuch von einem deutschen Verlag existiert nicht und ist auch nicht geplant. Der Langenscheidt-Verlag begründete dies auf Anfrage der taz im Januar damit, dass es sich um eine „Nischensprache“ handele. An der Universität Frankfurt/Oder gibt es immerhin einen Lehrstuhl für „Entangled histories of Ukraine“, an der Universität Greifswald eine Juniorprofessur für Ukrainische Kulturwissenschaften und eine studienbegleitende Zusatzausbildung in ukrainischer Sprache. Die Einsicht, dass es ein Wissensdefizit in Bezug auf die Ukraine gibt, setzt sich außerhalb akademischer Kreise erst seit 2022 wirklich durch.

Bis zum Ende des 2. Weltkriegs war das etwas anders. In Berlin gab es von 1926 bis 1945 sogar ein außeruniversitäres „Ukrainisches Wissenschaftliches Institut“. Die Initiative dazu ging Anfang der 1920er Jahre von Exilukrainern aus. Das Institut stand von Anfang an im Spannungsfeld politischer Auseinandersetzungen und wurde nie in universitäre Strukturen überführt. So blieb es hochschulpolitisch isoliert und stand nur ukrainischsprachigen Wissenschaftlern und Stipendiaten offen. Während des Kriegs bestand seine Arbeit dann auch nur noch aus Dienstleitungen für die Politik, vor allem für das Außenpolitische Amt des Deutschen Reiches und für die Wehrmacht.

Nach 1945 kam die Ukrainistik in Deutschland quasi vollständig zum Erliegen. Wissen über ukrainische Geschichte wurde kaum vermittelt. Der Schweizer Slawist und Osteuropahistoriker Andreas Kappeler, der sich bereits seit den 1980er Jahren mit der Ukraine beschäftigt und unter anderem 1994 die „Kleine Geschichte der Ukraine“ veröffentlichte, sagte in einem Interview, das im Sommer 2022 in der Zeitschrift Osteuropa erschien: „In den 1960er Jahren habe ich Geschichte und Slawistik an der Universität Zürich studiert. Die Ukraine kam im Studium nicht vor. In der Slawistik haben wir allenfalls gelernt, dass es ostslawische Sprachen gibt. (…) Ich war fast 30 Jahre alt und mein Wissen über die Ukraine war praktisch null.“

Susanne Frank, Professorin für Ostslawische Literaturen und Kulturen an der Berliner Humboldt-Universität, erklärt auf Anfrage der taz, der Leitung sei „erst 2022 klar geworden, das sie Ukrainisch brauche“. Nach dem Euro-Maidan 2014 etwa sei es nicht möglich gewesen, Geld für eine Ukrainisch-Lektorenstelle zu bekommen.

Im November 2013 hatte die ukrainische Regierung auf russischen Druck ein bereits unterschriftsreifes Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnet. Die darauf folgenden Demonstrationen in Kyjiw gingen als „Euromaidan“ in die ukrainische Geschichte ein. Im März 2014 folgte die russische Annexion der Krim.

Doch nach 2014 stattete man nicht etwa die Fakultäten für Slawistik oder Osteuropäische Geschichte besser aus. Die Ukrainistik an der Universität Greifswald wollte man aus Kostengründen 2015 sogar gleich ganz abwickeln. Stattdessen wurde mit finanzieller Unterstützung des Auswärtigen Amtes 2016 das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) gegründet, ein Forschungsinstitut, das auch politische Entscheidungsträger beraten soll. „Entweder gibt es kurzfristige Förderungen oder Parallelgründungen, statt bestehende Strukturen sinnvoll zu ergänzen“, resümiert Susanne Frank etwas resigniert.

Die Ukraine ist der größte Flächenstaat Europas mit bis Kriegsbeginn 40 Millionen Menschen. Es ist die Tragik der Geschichte, dass es erst einen Krieg brauchte, bis man sie im Westen endlich als eigenständigen Staat wahrnimmt.

Gaby Coldewey ist Slawistin und hat u.a. in Odesa studiert. Dort standen auch ein Ukrainisch-Sprachkurs und ein Seminar über ukrainische Literatur auf dem Lehrplan. Bei der Rückkehr nach Deutschland hätte sie ihre Kenntnisse gerne vertieft. Allein: Es scheiterte am fehlenden Angebot.

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10 Kommentare

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  • Bernhard Clasen , Autor , Journalist

    Warum sollen wir DeutschländerInnen ukrainischer als die UkrainerInnen sein? Führende ukrainische Internetportale, wie rbc.ua, nv.ua, gordoncom.ua, die Ukrajinska Prawda, unian.net, liga.net bieten ihre Inhalte in ukrainischer und russischer Sprache an. Und da heißt es in der russischen Variante „Kiew“. D.h. in der ukrainischen Presse ist „Kiew“ zu fast 50% vertreten.

    Nur im Nominativ und Akkusativ wird die Hauptstadt der Ukraine im Ukrainischen „Kyjiw“ genannt, in allen anderen Fällen „Kiew“ mit einer Endung.



    So heißt z.B. „aus Kyjiw / Kiew“ im Ukrainischen: „z Kiewa‘“, „in Kiew / Kyjiw“: „u Kiewi“, „nach Kyjiw/Kiew“: „do Kiewa“, usw.

    Genauso ist es auch mit den Städten Lwiw / Lwow und Charkiw / Charkow. Auch hier wandelt sich im Ukrainischen das i am Wortende in ein o, außer beim Nominativ und Akkusativ.

    Also sogar im Ukrainischen wird „Kiew“ (mit oder ohne Endung) zu 50 Prozent verwendet. So kann man also sagen: in der ukrainischen Presse liest man „Kyjiw“ nur zu ca. 30 Prozent. Ansonsten „Kiew“ mit oder ohne Endung.

    Die Hauptstadt von Belgien heißt: Bruxelles, Brussel, Brussels. Und wie schreibt die taz? Brüssel.

    Die Entscheidung der taz, ab sofort „Kyjiw“ zu schreiben, ist also eine selektive Ehrerbietung gegenüber der ukrainischen Hauptstadt, die man anderen Hauptstädten wie Brüssel, Peking oder Moskau nicht zukommen läßt.

    Bei einer NGO, bei AktivistInnen, kann ich es verstehen, wenn man sich entscheidet, „Kyjiw“ zu schreiben, bei der taz verstehe ich diesen Übereifer nicht.

  • foutje



    Die Autorin verwechselt Transkription mit Transliteration. Erstere ist aussprachebasiert, also eine "Lautschrift" in lateinischen Buchstaben und regellos (huch!), zweitere ist besagte regelrechte Umschrift der einzelnen Buchstaben und sogar DIN-genormt. Steht übrigens auch so in dem verlinkten Dokument.



    bedankt

    Bevor ich mir den Kopf zerbreche, wie und ob ich Lwiw oder Lwow aussprechen soll, sage ich lieber Lemberg.

  • Wie ist das eigentlich bei anderen Städten auf der ganzen Welt? Unter welchen Bedingungen ist es ok, eine eigenständige Schreibweise zu erhalten, nur weil sie "eingeführt" ist? Als prominentes Beispiel fällt mir Brüssel ein. Die Einwohner von Brüssel sind mehrheitlich französische Muttersprachler und schreiben "Bruxelles". Warum gilt also weiterhin "Brüssel" in deutschen Texten? Hier gibt es noch nicht mal den Vorwand der Transkription aus einem anderen Alphabet.

    • @Winnetaz:

      Brüssel ist einfach der deutsche Name der belgischen Hauptstadt und politisch korrekt, da Deutsch belgische Amtssprache ist.

      Wenn du auf dem Brüsseler Autobahnring nach Osten unterwegs bist, fährst du auf der Nordseite nach Aken (ja genau, Aachen) und auf der Südseite nach Aix-la-Chapelle (ja genau: ????) . Macht einen völlig kirre...

      • @PezzeyRaus:

        "Brüssel ist einfach der deutsche Name der belgischen Hauptstadt und politisch korrekt, da Deutsch belgische Amtssprache ist."



        Dann ist die Benutzung von "Moskau" für die russische Hauptstadt also verkehrt. Genau wie "Rom" für die italienische.



        Nein, das ergibt so selektiv schlicht keinen Sinn.



        Das ergibt es nur in Rekursion auf das im Text genannte "politische Statement", was der geübten Willkür dann seine Rechtfertigung verleiht.

        • @Encantado:

          Nun ja, für einige Städte und (Bundes-) Staaten gibt’s halt einfach auch deutschsprachige Bezeichnungen, so ja auch für das westukrainische Lemberg (nein, das hatte auch zu KuK-Zeiten kaum deutschsprachige Bewohner*innen).



          Witzig ist immer die Frage welcher US-Bundesstaat einen noch verwendeten deutschen Namen hat: Kalifornien natürlich…früher war auch mal Neu York, Pennsylvanien und Virginien gebräuchlich.

          • @Saile:

            "Nun ja, für einige Städte und (Bundes-) Staaten gibt’s halt einfach auch deutschsprachige Bezeichnungen..."



            Richtig, Kiew zum Beispiel.



            Deshalb mein Rückgriff auf das "politische Statemen", das tatsächlich den einzigen Grund darstellt.



            Die darüber hinaus gebotenen Begründungen sind inkohärent und - zumindest in meinen Augen - allein schon deshalb einfach nicht stichhaltig.

  • Bis auf das "Tatatarisch" ist dieser Artikel eine logische Erhellung zum ukrainischen (Selbst) Verständnis.



    Danke dafür

  • Was mir noch fehlt, wäre ein Hinweis zur Aussprache –ist die im Ukrainischen im Prinzip genau so wie wir sie kennen? Und übrigens: In der Karte zum Kriegsgeschehen steht noch die Transkription aus dem Russischen.

    • @o_aus_h:

      Kiew ([ˈk i ːɛ f]



      auf Deutsch auch Kyiv, Kyjiw oder Kyïv [ˈk ɪ j i v]



      ukrainisch Київ?/i Kyjiw [ˈk ɪ j ɪ u̯]



      russisch Киев Kijew [ˈk ʲ i (ɪ̯) ɪ f];



      IPA: Das abgebrochene I ohne Punkt steht für i offen, kurz, nahe am End-e von dtsch. 'bitte', u̯ grob gesehen für den engl. Konsonat w (nichtsilbischer Vokal). v steht für das deutsche w. und so wird Kyjiw im Deutschen auch meist gesprochen. Mit einem korrekt ausgesprochenen Karol Wojtyła [ˈkarɔl vɔjˈtɨu̯a]; hatten wir ja auch so unsre Problemchen.



      de.wikipedia.org/wiki/Kiew