Kurdisches „Aufstandsgebiet“: Der gute Mann von Çukurca
Im Südostzipfel der Türkei hat mal die PKK die Überhand, mal das Militär. Und dann ist da noch Landrat Temel Ayca, der für Normalität kämpft.
Doch hinter der Buchinstallation findet keine Ausstellung statt, stattdessen wird dort regiert. Die Buchrücken stehen am Eingang zum offiziellen Sitz des Kaymakams (Landrates). Ein Gebäude, das in Çukurca zwar relativ bescheidene Ausmaße hat, aber dennoch den Staat symbolisiert. Die Buchrücken sind ein Statement: Für gewöhnlich sind in kurdischen Städten im Südosten der Türkei die Quartiere der staatlichen Stellen mit Stacheldraht und Sandsäcken abgesichert. Hier nimmt man dafür Kulturgüter.
Ein paar Meter weiter ist ein altes Steinhaus sorgfältig restauriert worden. Es gibt ein großes, offenes Café im Souterrain und Sonnenschirme entlang der Straße. Ein Café, wie man es in den hippen Stadtteilen von Istanbul findet, aber niemals in einer kurdischen Stadt an der irakischen Grenze erwarten würde. Und noch etwas fällt auf: Die Menschen schlendern ganz entspannt durch ihr Städtchen, obwohl auch in Çukurca, wie in den anderen kurdischen Städten in der Türkei, schwer bewaffnete Gendarmerie durch die Straßen patrouilliert und auf allen Bergspitzen um den Ort herum Militärposten wie antike Wehrtürme in den Himmel ragen.
Offenbar haben die 17.000 Einwohner von Çukurca keine Angst. Das ist ungewöhnlich, denn in dieser Region des Landes, im Südostzipfel entlang der irakischen und iranischen Grenze, wird seit Jahrzehnten gekämpft. Hier hatte einmal die kurdische PKK die Oberhand, dann wieder die Armee.
Wie ein typischer Bürokrat
Erst in den letzten zwei Wochen sind in der Provinz Hakkari, zu der Çukurca gehört, vier türkische Soldaten im Gefecht mit der PKK getötet worden. Die Leidtragenden des Krieges sind fast immer Angehörige der Zivilbevölkerung, die von beiden Seiten unter Druck gesetzt wird. Doch offene Repression findet in Çukurca nicht mehr statt. Das Militär verhält sich neutral, es gibt keine Schikanen, das öffentliche Leben verläuft weitgehend ungestört.
Verantwortlich für diese vergleichsweise entspannte Atmosphäre im kurdischen „Aufstandsgebiet“ ist der derzeit in Çukurca amtierende Landrat Temel Ayca. Der Mann, der auf den ersten Blick wie ein typischer Bürokrat wirkt, ist erst 37 Jahre alt und Absolvent der renommierten Bilkent University in Ankara. Der Politologe hat in Frankreich und im belgischen Brügge studiert, seine Masterarbeit hat er über die EU-Türkei-Beziehungen geschrieben.
Zurückgekehrt ist er mit klaren Vorstellungen darüber, wie man eine leidende Region befriedet. Mit Rückendeckung von oben versucht er in Çukurca mit Hilfe diverser Projekte, etwa einer Volkshochschule für Frauen oder einer Agrargenossenschaft, die Herzen und Köpfe der türkisch-kurdischen Bevölkerung zu gewinnen.
Zunächst erinnerte die Begrüßung unserer kleinen ausländischen Besuchergruppe vor dem Café allerdings noch an die in der Gegend gewohnten Muster: Umgeben von acht schwer bewaffneten Bodyguards erscheint Temel Bey (Herr Temel, wie er in Cukurca genannt wird) zu einem kurzen Plausch und verschwindet dann wieder in seinem Office – allerdings nicht ohne eine Einladung zum Abendessen zu hinterlassen. Zu diesem erscheint er dann ein paar Stunden später, mit Frau und Kind, die Bodyguards außer Sichtweite.
In der Türkei gelten Posten für Staatsbeamte wie der in Çukurca, Şemdinli und ein paar anderen Orten im gefürchteten Länderdreieck als Himmelfahrtskommandos. Die Amtsträger sind für die PKK erstrangige Anschlagsziele. Doch Temel Bey möchte diese militaristische Logik durchbrechen, Çukurca für die Bevölkerung und für Besucher öffnen, um so schrittweise eine neue Normalität zu etablieren.
Der Weg zur Normalität ist noch weit
Ein Vorgehen, das nicht ohne Risiko ist: Anfang der 2000er-Jahre wurde der damalige Polizeichef der kurdischen Metropole Diyarbakır, Gaffar Okkan, der ein ähnliches Programm verfolgte, aus dem Hinterhalt erschossen – nur eines von vielen unaufgeklärten Attentaten in der Region.
Obwohl sich in Çukurca selbst schon vieles verändert hat, ist der Weg zur Normalität noch weit. Es beginnt bereits mit der Anreise: Von Van aus, der letzten Großstadt vor der irakischen Grenze, sind es bis hierhin knapp 300 Kilometer, die über schneebedeckte Gebirgspässe und tiefe Schluchten zurückzulegen sind. Die Straße führt immer nach Süden, die letzten 100 Kilometer entlang des Gebirgsflusses Zap, der bei Çukurca zunächst auf irakisches Territorium trifft und weiter südlich in den Tigris mündet.
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Schon 50 Kilometer vor der Provinzhauptstadt Hakkari taucht der erste große Kontrollposten des Militärs auf, dem bis zu unserem Ziel noch mindestens sechs weitere folgen. Doch je näher man Çukurca kommt, umso entgegenkommender sind die Soldaten. Sie wissen, dass der Kaymakam Temel Bey die Region für Besucher öffnen will.
Das Anliegen dieser neuen Politik ist der Versuch, den Bewohnern ihre Lebensgrundlage zurückzugeben. Konkret bedeutet das, Land- und Viehwirtschaft, die aufgrund militärischer Sperrgebiete weitgehend unmöglich geworden war, wieder zuzulassen und den Bauern dabei eine gewisse Starthilfe zu geben.
Mustafa* ist ein junger Agraringenieur, der zum Team des Kaymakam gehört und die Bauern dabei unterstützt, den früher in der Region weit verbreiteten Reisanbau zu rekultivieren. Die Region verfügt über viel Wasser aus den Bergen und in den Tälern herrscht ein Mikroklima, das Reisanbau ermöglicht. Zunächst müssen brachliegende Felder wieder hergerichtet, die Mauern der terrassierten Anbauflächen erneuert und vor allem die alten Wasserkanäle repariert werden.
Das Vertrauen zurückgewinnen
„Wir haben eine Stiftung gegründet, die den Bauern ihre Erzeugnisse zu einem garantierten Preis abnimmt“, erzählt Mustafa, „sonst würde sich der Aufwand nicht lohnen“. Da die alte Subsistenzwirtschaft zerstört ist, wurde mit Unterstützung des Landrats das Label „Zap Products“ unter dem Dach einer Stiftung gegründet. Über das Internet (www.zapvadisi.com) und Mundpropanda werden nun regionale Produkte von ökologisch angebautem Reis über selbst produziertes Sesamöl (Tahin) bis hin zu garantiert unbehandelten Walnüssen türkeiweit vertrieben.
Nach über 30 Jahren Repression ist es allerdings nicht so einfach, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. „Wir haben noch zu wenige Produzenten, die mit der Stiftung arbeiten“, gibt der Kaymakam zu, „wir brauchen mehr Produkte, um einen professionellen, landesweiten Verkauf gewährleisten zu können.“
Einer, der bislang keinen Vertrag mit der Stiftung abgeschlossen hat und seine Felder lieber weiterhin in Eigenregie bewirtschaftet, ist Ali, ein 45-jähriger Bauer, der auf eine für die Region typische Biografie zurückblickt. „Unser Dorf“, es liegt etwa 30 Kilometer von Çukurca entfernt in den Bergen, „mussten wir vor 25 Jahren verlassen“, erzählt er. „Das Militär kam und sagte, in 24 Stunden seid ihr weg.“ Ali steigen heute noch Tränen in die Augen, wenn er von seinem alten Dorf erzählt. „Wir hatten alles, was wir brauchten“, erinnert er sich. „Nur Tee, Zucker und ein paar Kleidungsstücke mussten wir kaufen. Das haben wir im Irak besorgt, es war dort viel billiger.“
Nachdem Ali und seine Familie das Dorf verlassen mussten, und mittellos in Çukurca landeten, musste er sich notgedrungen als „Korucu“ (Dorfschützer) beim Militär verdingen, eine kurdische Miliz, die das Militär gegen die PKK unterstützen soll. „Zwölf Jahre habe ich das gemacht“, sagt Ali, „wovon hätten wir sonst leben sollen?“
Die Kämpfe dauern an
Mittlerweile haben Ali und seine Brüder sich in Çukurca ein neues Haus gebaut, in dem die Großfamilie, angefangen von den alten Eltern über die Brüder mit ihren Ehefrauen und den insgesamt 15 Kindern, unter einem Dach lebt. Seitdem er nicht mehr als „Korucu“ arbeitet, hat Ali einen Hilfsjob im staatlichen Krankenhaus. Außerdem pachtete er einige kleine Felder in der unmittelbaren Umgebung und schaffte sich ein paar Tiere an.
Ali ist angetan von dem, was der Temel Bey in Çukurca geschafft hat, doch er bleibt skeptisch: Was, wenn der Kaykamam geht und ein neuer kommt? Wird er dann die Politik von Temel Bey fortsetzen? Noch dauern die Kampfhandlungen an und von einem normalen Leben für die kurdische Bevölkerung kann nicht die Rede sein.
Ali weiß, dass in seinem alten Dorf die Walnussbäume in diesem Jahr besonders viele Früchte tragen. Doch er darf nicht dorthin, um sie zu ernten. „Warum nicht“, fragt er aufgebracht, „immer noch ist alles verboten.“ Auch auf die irakische Seite der Grenze dürfen die Dörfler nicht, obgleich dort Verwandte von ihnen leben und der kleine Schmuggel vom Nordirak in die Türkei früher zum Alltag der Leute gehörte.
Doch im Dezember 2011 hatte das Militär eine Gruppe Dörfler etwas westlich von Çukurca für eine Einheit der PKK gehalten und 35 von ihnen mit einem Luftangriff getötet. Sie waren mit ihren beladenen Eseln vom Irak aus auf dem Rückweg zu ihrem Dorf in der Türkei. Kein Mensch traut sich seitdem mehr auf die andere Seite. „Wir wollen endlich unsere Freiheit wieder haben“, sagt Ali. „Genug ist genug.“
Es wird geschossen, gebombt
Doch ein Ende des Krieges zwischen der PKK und der türkischen Armee ist nicht in Sicht. Seitdem die Friedensgespräche im Sommer 2015 zusammenbrachen, weil beide Seiten letztlich der entscheidende Wille zur Beendigung des Konfliktes fehlte, wird wieder geschossen und gebombt. Nachdem die PKK im Winter 2015/2016 mittels bewaffneter Gruppen die Innenstädte mehrerer kurdischer Städte „befreite“, um dort autonome Zonen nach syrischem Vorbild zu schaffen, schlug die Armee (nach anfänglichem Zögern) hart zurück.
Die Provokation der PKK führte dazu, dass heute Teile der Altstadt von Diyarbakır und die Innenstädte von Cizre, Şırnak und Nusaybin in Trümmern liegen und hunderte kurdischer Bürgermeister und Aktivisten der HDP im Gefängnis sitzen. Seitdem konzentriert sich die PKK wieder auf Nordsyrien und in den kurdischen Gebieten der Türkei herrscht eine Art Friedhofsruhe.
Entwicklungen, wie sie der Kaymakam in Çukurca angestoßen hat, sind erste Anzeichen, die davon künden, dass die seit dem Desaster vom Winter 2015/16 andauernde bleierne Zeit langsam zu Ende gehen könnte. Dazu haben auch die Kommunalwahlen am 31. März beigetragen. Gerade dort, wo die Regierung in Folge der Kämpfe 2015/2016 die gewählten kurdischen Bürgermeister wegen „Zusammenarbeit mit der Terrororganisation“ abgesetzt und durch Staatskommissare ersetzt hatte, wurden nun durchweg VertreterInnen der HDP als Bürgermeister gewählt.
Eine seltene Ausnahme bildete Çukurca: In Anerkennung der Arbeit des Landrates und in der Hoffnung, dass diese fortgesetzt werden möge, wählten die Bürger von Çukurca, die bei der Kommunalwahl 2014 noch zu 80 Prozent HDP gewählt hatten, dieses Mal den Kandidaten der Regierungspartei AKP.
Anfang Mai erlebte Çukurca dann den Höhepunkt der Öffnungspolitik. Die Stadt hatte zu einem Festival eingeladen und mehr als 300 überwiegend junge Leute aus allen Teilen der Türkei kamen in den abgelegenen Ort. Am Ufer des wilden Zap war eine große Fläche planiert worden für die Zelte der Besucher. Statt tödlicher Auseinandersetzungen wurde Çukurca für ein paar Tage zum Ort friedlicher Wettkämpfe. Mit Kanurennen auf dem Fluss und Kletterpartien in den Bergen. „So“, meinte einer der Organisatoren, „könnte die Zukunft Çukurcas aussehen.
*Die kursiv gesetzten Personen sind anonymisiert.
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