Kulturszene in Moskau: Inseln der Freiheit

Moskaus Kunstszene scheint kaum beeindruckt von staatlicher Disziplinierung. Das zeigt der Besuch von Kunst- und Kulturzentren.

Make Russia Grey Again steht auf einer Mauer

Der Straßenkünstler Slava PTRK befasst sich mit den Auswirkungen des Tschetschenienkriegs Foto: Slava PTRK

Wo einst gearbeitet wurde, wird jetzt Kunst gezeigt. Diesen strukturellen Wandel machen nicht nur die alten Industriegebiete an der Ruhr und in Ostdeutschland durch. Auch mitten in Moskau sind frühere Fabriken zu Kunstzentren mutiert. Dort werden Ausstellungen gezeigt, die so gar nicht dem Bild eines neozaristischen Russlands von Putins Gnaden, durchzogen vom Gift des Na­tio­nalismus, entsprechen.

Im Winsawod, einer ehemaligen Wein- und Bierfabrik, sind Schießscheiben ausgestellt. Sie gehören zum Ausstellungsprojekt „1999“ des Straßenkünstlers Slava PTRK. Er erinnert damit an den zweiten Tschetschenienkrieg, der 1999 begann. Er bat Angehörige von Kriegsteilnehmern, diese zu interviewen.

In den Gesprächen wird vor allem die Sinnlosigkeit des Kriegsgeschäfts deutlich. Einzelne Aussagen aus den Gesprächen brachte PTRK auf den Schießscheiben an. „Du verstehst den Krieg erst, wenn du mittendrin bist“, lautet eines dieser Zitate. Ein anderes, angebracht auf der Rückseite einer früheren militärischen Hinweistafel, besagt: „Über Patriotismus spricht man im Krieg nicht mehr!“

Schießscheiben und Tafel fand PTRK auf einem früheren militärischen Ausbildungszentrum, etwa 140 Kilometer von Moskau entfernt. Fotos, die er dort schoss, zeigen ein verlassenes, verwahrlost wirkendes Drillareal, durchweht vom modrigen Atem der Geschichte. Die ausführlichen Interviews liegen in der 11.12 Gallery aus, die die Ausstellung zeigt.

Kriegsdarstellung in der Galerie

Sie sind Teil einer Geschichte von unten über einen blutigen und wenig erfolgreichen Krieg, der zudem seinen Anteil an einer islamistischen Radikalisierung im früheren sowjetischen Großreich hat. Die 11.12 Gallery ist eine von knapp einem Dutzend zeitgenössischen Galerien, die sich seit 2007 auf dem Gelände von Winsawod etabliert haben.

Die XL Gallery dürfte die international bekannteste von ihnen sein. Sie brachte unter anderem den Aktionskünstler Oleg Kulik, berühmt geworden durch seine Hundeperformances, und Irina Korina, 2009 schon bei der Biennale Venedig dabei, heraus.

Die Fine Art Gallery hingegen widmet sich eher aufstrebenden Künstlern. Aktuell präsentiert sie in einer Debütausstellung Vyacheslav Yereshchuk. Die Serie „Harvest“ (Ernte) besteht aus monochromen, reliefartigen Arbeiten, die die Strukturen von Pflanzen und Blumen aufnehmen. In der Serie „Schlacht der Helden und Amazonen“ konfrontiert der Künstler weitgehend nackte Männer- und Frauenkörper mit Tierkörpern in mal eher rein gewalttätig, mal stärker sexuell aufgeladenen Situationen.

Gesetze ignoriert

Immer wieder kommen Besucherinnen und Besucher in die Ausstellung und inszenieren Selfies mit sich und den Mensch-Tier-Vereinigungen. Wer angesichts der staatlichen Kampagnen gegen Nacktdarstellungen in Bildender Kunst und Theater sowie der Gesetze gegen vermeintliche Obszönität in der Kunst, Verhöhnung von Religionen und sogar gegen den Gebrauch von Flüchen, die in den Jahren 2013 und 2014 erlassen wurden, starke Selbstzensur der Künstler sowie künstliche Empörung des Publikums befürchten musste, sieht sich zumindest jetzt in dieser Annahme getäuscht.

Das Damoklesschwert des zensierenden Staats schwebt zwar über den Köpfen, aber nicht jeder scheint den Nacken beugen zu wollen. Der Freiraum entsteht auch deshalb, weil Institutionen wie Winsawod privat finanziert wurden.

Wie beim Ausstellungszentrum Garage, hinter dem der mittlerweile in London lebende Ölmilliardär Roman Abramowitsch steckt, ist auch Winsawod auf Initiative eines kunst-affinen Oligarchen entstanden. Roman Trotsenko, laut Forbes 1,6 Milliarden Dollar schwer, Besitzer von gleich 14 russischen Flughäfen von Königsberg bis Nowosibirsk und natürlich auch in den Panama Papers als Offshore-Geldverstecker gelistet, ließ die alte Alkoholproduk­tions­stätte als Spielwiese für seine Frau Sofia herrichten.

Jetzt beherbergt Winsawod neben den Galerien auch Filmstudios, einen Theatersaal und Weiterbildungseinrichtungen für Journalismus und Kunstkritik. An einer der Ziegelmauern der ehemaligen Indus­trie­anlage werden regelmäßig Graffiti-Ausstellungen kuratiert. Schade nur, dass da aktuell kein Platz war für ein Werk von Slava PTRK, dem Künstler mit dem Tschetschenienkrieg-Projekt.

Make Russia Grey Again!

In seiner Heimatstadt Jekaterinenburg besprühte er anlässlich eines Street-Art-Festivals eine hellgraue Ziegelwand mit dem dunkelgrauen Schriftzug „Make Russia Grey Again“. Diese bizarre Verschmelzung der Autokraten aus Washington und Moskau hätte auch prima hierher gepasst.

Nur ein paar Fußminuten entfernt vom Winsawod befindet sich Artplay, ein weiteres Kunst- und Kulturzentrum. Auf der insgesamt 75.000-Quadratmeter-Fläche einer ehemaligen Fabrikanlage haben sich etwa 300 Büros für Architektur und Design, einige Showrooms und Designschulen sowie Nachtklubs angesiedelt.

Das Damokles­schwert des zensierenden Staats schwebt über den Köpfen

Architektonisch eindrucksvoller noch ist das Gelände der ehemaligen Schokoladen­fa­brik Roter Oktober. Es befindet sich am südwestlichen Ende der Baltschug-Insel inmitten der Moskwa. Die aus rötlich schimmernden Ziegeln erbaute Anlage beherbergt unter anderem das Brüder Lumière Zentrum für Fotografie. Es präsentiert zeitgenössische und historische Fotokunst.

Den zeitgenössischen Part übernimmt aktuell der britische Modefotograf Miles Aldridge, den historischen der Fotopionier Alexander Rodtschenko. Das alte Gemäuer der früheren Schokoladenfabrik erweist sich als perfekter Startpunkt für die Zeitreise mit Rodtschenkos dynamischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen.

Die experimentellen 20 Jahre

Rasende Fotoreporter und Filmregisseure auf bulligen Motorrädern sieht man dort, einen auf einer Leiter nach oben strebenden Menschen und ein Mädchen, das in einem gerasterten Schatten fast völlig aufgelöst ist. Die experimentellen 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts bieten sich als Analogie auch für die jetzige Situation an.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Freilich gingen die 1920er am Ende der Dekade in der Sowjetunion in die massive Repression des Stalinismus über. Und Moskaus heutige Kunstinseln sind bei Weitem nicht repräsentativ für das gesamte Land. Aber es gibt sie eben auch, ein Produkt vor allem der kurzen kulturellen Öffnungsphase während der Präsidentschaft Dmitri Medwe­djews zwischen 2008 und 2012.

Welche Funktion die Kunst früher hatte, kann man unweit des Roten Oktober ebenfalls sehen. Im nördlichen Zipfel des Gorki-Parks sind zahlreiche Statuen von Lenin, Stalin & Co sowie andere skulpturale Erzeugnisse des sozialistischen Realismus in einer Art Zombieshow ausgestellt. Das heutige Russland zeichnet sich durch ein Leben in sehr unterschiedlichen Zeit- und Raumkonstellationen aus.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.