Kulturreportage aus Rumänien: Wo Dalí den dunklen Grafen bezwingt
Strange things happen in Transsylvanien. Offen und geschichtsbewusst zeigt sich die Kulturszene in der transsylvanische Stadt Cluj-Napoca.

Wir sind in Transsylvanien, und Transsylvanien ist nicht England. Es wird für Sie viele seltsame Dinge geben“. Bei Rumänien immer noch das Klischee Dracula zu zücken, offenbart eine verräterische Projektion West. Aber die Warnung, mit der der Schreckensmann aus Bram Stokers legendärem Roman von 1875 den jungen Rechtsanwalt Jonathan Harker auf „seltsame Dinge“ während seines Besuchs in dem düsteren Schloss in den Karpaten einstimmt, schießt dem Besucher dann doch durch den Kopf, der in diesem Sommer durch das siebenbürgische Klausenburg streift, das heute Cluj-Napoca heißt.
Wie zu erwarten, sind nirgendwo in Rumäniens zweitgrößter Stadt ein bleicher Dracula, Fledermäuse oder verdächtige Nebelschwaden zu sehen. Friedlich brütet in der Hauptstraße Regele Ferdinand das reale Dreisterne-Hotel „Transylania“ unter der Mittagssonne, in dem der fiktive Harker abstieg, als es noch Royale hieß und er dort Backhendl mit Paprika verschlang, bevor er am nächsten Morgen in den Zug nach Bistrița stieg, wo des Grafen Kutsche auf ihn wartete.
Auch die zähnefletschende Bronzeskulptur vor dem „Steampunk“-Museum Transylvania, einer bizarren Sammlung retrofuturistischer Objekte vom dampfgetriebenen Raumschiff bis zu Kuckucksuhren, entpuppt sich als geflügelter Löwe und keines der Flattertiere, in die sich Dracula des Nachts verwandelte. Immerhin wirbt das kleine Museum damit, „the strangest museum in the country“ zu sein.
Wirklich Lügen strafte vor ein paar Monaten den Schein geisterfreier Normalität einzig Salvador Dalí. Ein Plakat mit einem Porträt des Surrealisten an der Casa Hintz warb für die Ausstellung seiner Skulpturen und Zeichnungen im Obergeschoss der alten Apotheke schräg gegenüber der Piața Unirii. Da steht die gotische St. Michaels-Kathedrale aus dem 15. Jahrhundert, das Wahrzeichen der Stadt.
Mit steilgestelltem Schnurrbart
Mit seinem steilgestellten Schnurrbart und den aufgerissenen Augen wirkte der Surrealist wie ein Wiedergänger des blutsüchtigen Grafen. „I’m not strange. I’m just not normal“, der Untertitel der Schau, passte auf den karpatischen Mythos wie das Kreuz vor Draculas Gesicht. Und Dalís Skulptur „Mann mit Schmetterling“ rief das Geschäftsmodell Metamorphose auf, dem auch Stokers berüchtigter Graf folgte.
Das unscheinbare, zweistöckige Eckhaus hat eine lange Geschichte. Die um 1580 eröffnete Apotheke ist die älteste der Stadt. Erst kommunal betrieben, wechselte sie mehrmals die Besitzer, bis die Familie Hintz sie 1863 übernahm. Über Nacht verstaatlichten die sozialistischen Machthaber die Apotheke 1948 und eröffneten sechs Jahre später darin ein Apothekenmuseum. Ihre Besitzer, die Familie Hintz, Angehörige der ungarischen Minderheit, kehrten in den achtziger Jahren dem Vampirregime der Ceaușescus den Rücken und emigrierten nach Deutschland.
Einer ihrer Nachfahren, der Frankfurter Augenarzt Georg Hintz, übernahm 2017 das historische Gemäuer, nachdem es 2008 an die Familie rückübertragen worden war. Im Januar 2024 konnte er den verwinkelten Bau neu eröffnen. Vier Jahre dauerte die denkmalgerechte, millionenteure Renovierung des im Sozialismus heruntergekommenen Eckhauses. Selbst einen Münzschatz aus der Zeit der Cholera-Epidemie 1873 bargen die Arbeiter.

Heute ist das „Muzeul de Farmaciei“, inzwischen Dependance des Historischen Museums Transsylvanien, Hintz’ Untermieter. Die Liaison ist eines der raren Beispiele einer Public-Private Partnership, von der sich die Kulturszene Rumäniens angesichts leerer Staatskassen ein Überleben in politisch turbulenten Zeiten verspricht. Für die erste Ausstellung in den edel renovierten Räumen über dem Museum konnte Hintz den italienischen Kunsthändler Beniamino Levi gewinnen. Der Weggefährte Dalís präsentierte seine Sammlung von dessen Skulptur-Editionen.
Digitale, lokale Avantgarde
Nach dem Zugpferd der europäischen Moderne folgte im Museum die junge, lokale Avantgarde mit der Ausstellung „Interaktive Digitale Kunst“. Mit immersiven Installationen suchten Absolvent:innen der Film- und Theater-Fakultät der Universität Babeș-Bolyai Prägungen wie Identität, Gemeinschaft und Erinnerung neu erfahrbar zu machen.
Zusammen mit dem Festivalmanager Mihai Păun will Hintz das Museum peu à peu um ein Kulturcafé erweitern. Ein Shop und die gut sortierte Bücherei Cărturești komplettieren den neuen Kunstverbund – eine der vielen, kleinen, nervenzehrenden Metamorphosen, die Cluj langsam in eine kulturelle Destination verwandeln.
Die Wiedergeburt der Casa Hintz ist das spannende Beispiel einer Identitätsbefragung zwischen Ost und West, Deutschland und Rumänien – überall waren die Hintzens in der Minderheit. Mit der Renovierung entdeckte der Arzt die Heimat, der er als Zwanzigjähriger den Rücken gekehrt hatte, neu. Zugleich treibt ihn die Idee der Wiedergutmachung einer historischen Ungerechtigkeit.
Bei aller Familiengeschichte geht es ihm aber um das kulturelle Erbe. Er freut sich, dass er das Haus für die Stadt erhalten konnte, „in der meine Vorfahren gelebt und gearbeitet haben“ sagt er. „Jetzt besteht die Chance, dass Liberalität und Offenheit im Kultursektor erhalten bleiben“ kommentiert er den Wahlsieg des liberalen Kandidaten Nicușor Dan bei den Präsidentschaftswahlen im Mai. Doch auch die politische Rechte hat in der liberalen Universitätsstadt mit ihren 65.000 Studierenden ein knappes Drittel der Stimmen erhalten.
Dependance in Berlin, Plan B
Derart auf neues Niveau gebracht, bildet die Casa Hintz nun das noble Gegenstück zu dem Bánffy-Palais schräg gegenüber. In dem ehemaligen Stadtpalast ungarischer Herzöge im Stil des transylvanischen Barock residiert heute das Muzeul de Arte. Beim Flanieren auf knarrendem Parkett lässt sich vor der Phalanx angestaubter Ölbilder nachvollziehen, wie sich die rumänische Malerei von der Ikone zur Abstraktion hin freiarbeitete.
Gegenläufige Parallelbewegungen: Während der Deutschrumäne Hintz sich zurück nach Südosten bewegt, strebt die „Schule von Cluj“, eine Gruppe postkommunistischer Maler:innen, allesamt Absolvent:innen der Kunstakademie Cluj, die seit den 2000ern die Kunstwelt erobert, nach Westen. Plan B, ihre Galerie, hat jetzt eine Dependance an Berlins Strausberger Platz.
Wer das verwinkelte Muzeul Farmaciei mit über 7.000 Objekten besucht, betritt ein Reich zwischen Leben und Tod. Zwar ist die Medizin das Gegenprogramm zum draculanischen Aberglauben. Aber neben den bemalten Porzellantiegeln, giftgrünen Urangläsern und steinernen Mörsern finden sich dort auch Quacksalbereien wie Krebsaugen, ein „Liebeselixier“ oder das „Mumienpulver“. Doch selbst in Siebenbürgen, das zeigt die Sammlung historischer Apparaturen des Muzeul, hat die moderne Medizin den Aberglauben überholt. Mit einem angespitzten Holzkeil oder Knoblauchgebinden muss hier niemand mehr Untote erlegen.
Einladung zur Zeitreise
Die Faszination einer Zwischenwelt wirkt aber immer noch. Die Exponate des beliebten Steampunk-Museums spielen in einer alternativen Realität. In dem vollgestopften kleinen Haus lässt sich das Labor eines Alchemisten betreten, der nach dem ultimativen Lebenselixier suchte. Und wer ein Buch in einem Regal verrückt, dem öffnet sich ein versteckter Raum mit einer stählernen Zeitmaschine, wie aus den Romanen von Jules Verne und H. G. Wells.
In dem Gefährt kann man sich in Geoffrey Sax’ BBC-Serie „Doctor Who“ beamen lassen, in der ein mysteriöser Zeitreisender in gefährliche Abenteuer verwickelt wird. So wie er sich regenerieren kann, wenn er tödlich verwundet wird, ähnelt der unsterblich gewordene Zeitreisende darin dem berühmtesten Transsylvanier, der nie gelebt hat, aber als Mythos unsterblich ist.
Wer am Ende des Parcours dann dem Schild „Exit to Reality“ folgt, steht wenige Meter weiter in der Strada Constanţa vor einer langen Mauer, die Clujs malerische Subkultur in Beschlag genommen hat. Eine Frau verschwindet auf einem der Murals mit wehenden Rockschößen durch eine geschlossene Wand. Immer noch geschehen „strange things“ in Transsylvanien.
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