Kultpoet Hölderlin: Die gebrochene Lichtgestalt

Zwischen Poesie und den „best Falafel in Town“: Der Hölderlinpfad ist eine Hommage an den Dichter und seine Lebensabschnitte.

Hölderlin Turm

Der Hölderlin-Turm in Tübingen am Neckar Foto: dpa/Tom Weller

Zuerst ist Goethe dran. Wir stehen vor seinem Geburtshaus im Frankfurter Hirschgraben, denn hier beginnt der Hölderlinpfad nach Bad Homburg. Das Haus der Familie Gontard, in dem der Dichter Friedrich Hölderlin einst ein und aus ging, gibt es nicht mehr. Frankfurt am Main hat nur wenig echte Altstadt übrig. Immerhin starten wir in historischem Ambiente. Zügig passieren wir die „Hauptwache“, am „Eschenheimer Turm“ nehmen wir den „Oederweg“. Und sind kurz darauf am kleinen „Adlerflychtplatz“, wo uns eine Traube Menschen anlockt. Man wartet auf die „Probably best Falafel in Town“. Und daran führt so schnell kein Weg vorbei. Hier sind wir auch an einem wichtigen Wegpunkt des Pfades, nämlich dem Sommersitz der Familie Gontard angekommen. Irgendwo an diesem Platz soll der „Adlerflychthof“ inmitten von Gärten und schöner Natur gestanden haben.

Mit der ersten Rast kommt auch die erste Irritation auf. Kann man sich noch eine Vorstellung vom Jahr 1800 machen? Wir müssten uns alles Mögliche wegdenken. Als Erstes vielleicht von 750.000 Einwohnern auf die damaligen 40.000 runterrechnen. Seinerzeit war man hier längst außerhalb der Stadtmauern im Freien. Der Oederweg ist ein Weg der Öde. Bad Homburg ist noch 20 Kilometer weit weg. Und so einfach, wie Hölderlin, diesen Weg hin- und hergehen?

Friedrich Hölderlin war einer Stelle wegen nach Frankfurt gekommen. Ende 1795 wurde er der Hauslehrer der Gontards. Es war seine zweite Hauslehrerstelle. Während der ersten hatte er die Gouvernante des Hauses geschwängert. Jetzt in Frankfurt traf er in der Hausherrin Susette Gontard auf die Liebe seines Lebens. Beide waren jung, beide Mitte zwanzig, sie aber bereits Mutter von vier Kindern. Eine unmögliche Liebe, die über zwei Jahre lang gutging, aber schließlich nicht mehr zu halten war. Hölderlin gab die Stelle auf und wich nach Bad Homburg aus, wo ein Studienfreund, Isaak Sinclair, lebte. Das Pendeln zwischen Bad Homburg und Frankfurt war seiner Liebe geschuldet. Er himmelte Susette Gontard an, sie war seine überirdische „Diotima“, dieses besondere „Wesen auf dieser Welt, woran mein Geist Jahrtausende verweilen kann und wird …“ Noch fast zwei weitere Jahre lang tauschten sie Liebesbriefe – im Garten der Sommerresidenz am heutigen Adlerflychtplatz.

Ein exHölderlin, der Kultpoet, und Hölderlin, die gebrochene Lichtgestalt, der Arme, der die zweite Hälfte seines Lebens seelisch und geistig zerrüttet in einem Tübinger Turm verbrachte … eine schwierige Biografie. Auch seine Gedichte und Oden sind nicht einfach. Immer der hohe Ton. Immer schwärmerisch und schwelgend und ohne Kenntnis seiner Sehnsucht nach Arkadien und toten griechischen Göttern kaum zu begreifen. Aber auch immer wieder fasziniert er mit tollen Sprachbildern und ungewöhnlichen Wendungen und mit einer assoziativen und komplexen Denkweise. Man gerät in eine Zwischenwelt, der Rhythmus seiner Zeilen zieht unmerklich mit. Leicht kann man zum Fan werden, trotz der altertümlichen Sprache. Am 20. März 2020 würde er 250 Jahre alt.

Exzessiver Geher

Es ist keine schlechte Idee, diesen Dichter mit einem Wanderweg zu ehren. Denn Friedrich Hölderlin war ein exzes­siver Geher. Man stellt ihn sich gern als scheu, schmächtig und vergeistigt vor, aber er soll recht groß und breitschultrig und robust gewesen sein. Und selbstbewusst. Er soll Wutausbrüche gehabt haben und von Kindheitstagen an eine leicht manisch-depressive Seite. Eigentlich sollte er Pfarrer werden, aber seine Ausbildung und sein Umgang prägten ihn auf eine anspruchsvolle gesellschaft­liche Rolle.

Die Jugend- und Studienfreunde im Tübinger Stift waren die späteren Star-Philosophen Hegel und Schelling, man bildete ein genialisches Trio, das – angetörnt von der Französischen Revolution – schon früh ein Programm für ein philosophisch-poetisches Zukunftsdenken entwarf. Man wollte Kant weiterentwickeln, der Aufklärung ihre Strenge nehmen. Und Hölderlin war ein Frauentyp. Ein Fragment seines Briefromans „Hyperion“ war ihm nach Frankfurt vorausgeeilt. Friedrich Schiller hatte den Text drucken lassen. Susette Gontard, wusste also, wer in ihre Dienste trat. Sie war sehr angetan.

Der Hölderlinpfad nutzt Frankfurts grüne Schneisen. Am oberen Oederweg biegen wir durch ein freistehendes, herrschaftliches Tor in eine autofreie Kastanienallee ab. Sie endet vor dem ehemaligen Wasserschlösschen der Familie Holzhausen. Was wird Hölderlin hier gesehen haben? Hatte er je Zugang zu diesem schönen Anwesen? Heute ist hier ein beliebter kleiner Park im Frankfurter Nordend inmitten einer sehr teuer gewordenen Wohngegend. Bald werden wir immer wieder an Park- und Sportanlagen und Kleingärten vorbeikommen. Eine andere Sicht: statt des üblichen Blicks auf die Stadt vom Auto oder der Bahn aus jetzt ein Blick von innen heraus auf das rasende Drumherum. Viermal werden wir eine Autobahn queren müssen. Es ist laut und damals gab es mehr Landschaft. Und Hölderlin brauchte Landschaft. Sie war die Projektionsfläche seiner Griechenlandleidenschaft, aber er ließ sich auch von ihr ansprechen, als führe sie ein persönliches und kulturelles Eigenleben. Seine Dichtung lebte vom Draußen.

Goldene Zeitalter des Wanderns

Erst im Nidda-Tal wird es für uns ländlicher. In der Nähe von Neubaugebieten treffen wir häufig auf Spaziergänger mit Hunden und auf Frauen mit Kinderwagen. Jenseits der A5 dann der spektakuläre Blick zurück auf die Frankfurter Skyline. Ein unwiderstehlicher Hingucker. Automatisch machen wir Halt. Den Frankfurter Dom, den Hölderlin von hier aus vielleicht noch sehen konnte, entdecken wir nicht.

Wir gehen jetzt schneller, wollen vorankommen. Auch das Gehen war für Hölderlin existenziell. Einerseits gehörte Wandern zum Lifestyle seiner Zeit. Sensible Intellektuelle waren zu Fuß unterwegs. Rousseau hatte mit der Forderung „Zurück zur Natur“ einen Boom ausgelöst. Parallel zu den Befreiungsbewegungen vor und nach der Französischen Revolution kam eine politische Seite hinzu. Man wollte und musste raus. „Komm! ins Offene, Freund“… So Hölderlin. In ihrer großartigen Studie „Wanderlust“ spricht Rebecca Solnit von einem „Goldenen Zeitalter des Wanderns und Spazierens“. Nicht nur in Europa, auch in den USA. Andererseits gehören Gehen und Denken seit der Antike irgendwie zusammen. Und es macht Sinn. „Ich habe den Verdacht“, so Solnit, „ dass der Geist wie die Füße mit rund 5 Kilometern die Stunde arbeitet.“ Man synchronisiert sich, indem man geht.

Und Hölderlin hatte eine Menge zu synchronisieren. Die persönlichen Spannungen ebenso wie das ambitionierte poetische Programm, das er sich abverlangte. Immerhin wollte er die Poesie als Lehrmeisterin der Menschheit etablieren. Vielen Gedichten merkt man an, dass er sie beim Gehen verfertigte. Das verrät der Rhythmus der Verse. Kein Wunder, wenn man dranbleibt.

Man darf Hölderlin lieben

Es gab diese spannende Auseinandersetzung, die von Frankfurt aus Theodor W. Adorno um Hölderlin führte. Und zwar als Angriff auf den Philosophen Martin Heidegger, der dreist den Dichter für sich reklamiert hatte – als poetischen Ausdruck seiner eigenen Seinsphilosophie. Heidegger verstand Hölderlin als die Verkörperung des Dichters und die Eigentlichkeit des Dichtens und bezeichnete seine Gedichte als das „dichtend Gedichtete“. Hölderlin habe das „Wesen der Dichtung“ neu „gestiftet“. Aber Heidegger ging es offenbar um mehr: um die Überwindung von Heimatlosigkeit durch Hölderlin, weil bei diesem das „Seyn“ selbst zur Sprache gelangt sei und uns für die erwartete und erhoffte große Wende im frühen 20. Jahrhundert öffnete. Eine Archaik, vor der es Ador­no gruselte. Zumal sich Heidegger in seinen Gedicht-Interpretationen gern auf alles konzentrierte, was Hölderlin angeblich gedacht, aber nicht ausgesprochen hatte. Auf diese Weise war Hölderlin auch für Nazis anschlussfähig geworden.

Für Adorno hatte Heidegger den Dichter Hölderlin schlicht umfrisiert. Sein Fazit: „Hölderlin verweigert sich der Propaganda für die restaurative ‚Pracht des Schlichten‘.“ Adorno betonte vielmehr Hölderlins „genuin kritische und utopische Beziehung zur Realität“. Auf diese Weise holte er ihn 1963 zurück in den Kanon der Guten.

Man durfte Hölderlin wieder lieben. Und genau das passierte. Im linken Verlag Roter Stern (Stroemfeld) wurde eine neue Hölderlin-Gesamtausgabe angegangen. Unvergessen die „Bleierne Zeit“, die sich Margarete von Trotta als Filmtitel lieh. Oder auch die Verszeilen aus dem „Patmos“: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“.

Über Hölderlin

Im Hanser Verlag sind 2019 zwei unbedingt lesenswerte neue Bücher zu Hölderlin erschienen: von Rüdiger Safranski „Hölderlin. Komm! ins Offene, Freund! Biografie“ (28 Euro); und von Karl-Heinz Ott „Hölderlins Geister“ (22 Euro). Neu aufgelegt ist der Bericht einer Wanderung auf Hölderlins Spuren von Nürtingen nach Bordeaux von Thomas ­Knubben, „Hölderlin. Eine Winter­reise“ (Klöpfer, Narr Verlag, 34 Euro). Die Gedichte Hölderlins gibt es als preiswerte Reclam-Ausgabe.

Übers Wandern

Rebecca Solnit: „Wanderlust – Eine Geschichte des Gehens“. Matthes & Seitz, 2019, 384 Seiten, 30 Euro.

Die Ausstellung

In der Wanderausstellung „Hölderlins Orte“ treffen Friedrich Hölderlins Verse und Landschaftsbeschreibungen auf Fotografien von Barbara Klemm – eigens für die Ausstellung folgte die Fotografin mit der Kamera den Blickrichtungen aus Hölderlins Gedichten (in Tübingen vom 5. April bis 31. Mai 2020, Hölderlinturm). Der Katalog zur Ausstellung ist im Kerber Verlag erschienen, ISBN 978-3-7356-0658-7.

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Das schöne kleine Bad Homburg vor der Höhe: Es wurde bekannt durch den Homburg-Hut, Kleists „Friedrich von Homburg“, die Heilquellen, die Spielbank. Und wurde verewigt vom Schriftsteller Dostojewski, der sich am Roulettetisch ruinierte und darüber den Roman „Der Spieler“ schrieb.

Zu Hölderlins Zeit gehörte der Ort zum Besitz der Landgrafen Hessen-Homburg und zählte höchstens 3.000 Einwohner – gegenüber knapp 56.000 heute. Wir sehen Bad Homburg von Ferne. Die grellen Lichter des vorgelagerten Gewerbegebietes holen es näher heran, als es wirklich ist. Die Tage sind kurz um diese Jahreszeit, Hölderlin soll die Strecke in drei Stunden gemacht haben, aber wir überqueren die letzten großen Ackerflächen vor der letzten Autobahn fast schon im Dunkeln. Über unseren Köpfe lärmen Krähen, sie fliegen zurück nach Frankfurt auf ihre Schlafbäume.

Das repräsentative Haus des Freundes Sinclair ist heute ein Museum mit wechselnden Kunstausstellungen. Es liegt gegenüber dem Homburger Schloss. Eine sehr große Libanonzeder verdeckt fast den Schlosseingang. In Bad Homburg wollte Hölderlin eine Existenz als freier Literat beginnen.

Fast zwei Jahre lang hielt er sein neues Leben und den Ort aus. Dann – nach einem Zwischenspiel als Hauslehrer in der Schweiz und vielen traumhaft schönen Gedichten über Landschaften und Heimkehr – brach er zu seiner ganz großen Wanderung nach Bordeaux an die französische Atlantikküste auf. Es war Anfang Dezember 1801, möglicherweise am selben Tag, an dem ein anderer berühmter Zeitgenosse, Johann Gottfried Seume, losging.

Die Verwirrung

Doch wo Seume, wie er sagte, einen „Spaziergang nach Syrakus“ machte, um sich „das Zwerchfell zu lüften“, wollte Hölderlin in Bordeaux eine weitere Hauslehrerstelle antreten. Und während Seumes Wanderung diesem den Stoff für eine berühmt gewordene Reiseerzählung lieferte, kam Hölderlin fast zeitgleich nach Hause zurück, aber völlig fertig und verwahrlost. Niemand weiß, warum er die Stellung so schnell wieder aufgab, noch weiß man, ob er schon in Bordeaux von Susette Gontards gesundheitlichen Problemen erfahren hatte und ob er sie noch hat sehen können, bevor sie verstarb – oder ob er von dieser Katastrophe erst zu Hause bei der Mutter in Nürtingen erfuhr. Die Frankfurter Geliebte starb im Juni 1802 an einer eigentlich harmlosen Kinderkrankheit, den Röteln.

Bad Homburg war auch Hölderlins letzter Aufenthaltsort vor der Psychiatrie – und den dann folgenden 36 Jahren in der Obhut der Familie Zimmer in Tübingen. Isaak Sinclair war nochmals aktiv geworden und hatte den Freund in der Landgräflichen Bibliothek untergebracht. Aus der Wanderung nach Bordeaux machte Hölderlin eins der schönsten und vollkommensten Gedichte: „Andenken“. Ein Gedicht über die Erinnerung dieser Reise. Es schließt mit dem berühmten Satz:. „… Was bleibet aber, stiften die Dichter.“

Leider geriet Sinclair 1805 wegen angeblich umstürzlerischer Umtriebe in Untersuchungshaft. Für den angeschlagenen Hölderlin war dies das Ende seiner poetischen Ambitionen. Nach der Psychiatrie in Tübingen ging er nur noch auf und ab, im Turm, im Garten, an dem kleinen Stück Ufer des Neckar, wo er sich frei bewegen durfte. Gelegentlich dichtete er noch, umso mehr verbrauchte er Schuhe. Die vielen Rechnungen für den Schuster gehörten zu Hölderlins Unterhaltskosten und wurden penibel mit seiner Mutter abgerechnet.

Über sich selbst meinte Hölderlin, dass ihm „mehr von Göttern ward, als er verdauen konnte“. Sein neuester Biograf, Rüdiger Safranski, meint eher, dass wir heute zu wenig von diesen Göttern haben, um ihn noch zu verstehen. Das wäre allerdings schade.

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