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Künstlerin über Proteste in Belarus„Emanzipation vom Lukaschismus“

Die 17-jährige Anastasia Kasanowitsch ist eine Galionsfigur der Proteste in Belarus. Die Studentin über Polizeigewalt, Frauen in Weiß und Straßenmalereien

Anastasia Kasanowitsch bei ihrer Ferstnahme am 19. September in Minsk Foto: tut/dpa

Anastasia Kasanowitsch ist eine 17-jährige belarussische Studentin und Künstlerin. Wie viele andere furchtlose Frauen und Männer ist sie seit Wochen auf den Straßen, um gegen die Schreckensherrschaft von Staatschef Alexander Lukaschenko zu demonstrieren. Das Foto, auf dem sie von zwei maskierten belarussischen Sicherheitskräften abgeführt wird, ging um die Welt.

taz: Frau Kasanowitsch, mit Glitzerkleid und senfgelber Lederjacke wurden Sie von maskierten Sicherheitskräften gepackt und in Gewahrsam genommen. „Posor!“ („Schande!“) riefen 2.000 Frauen am 19. September während des Glitzermarsches. Was ist nach der Festnahme mit Ihnen passiert?

Anastasia Kasanowitsch: Ich wurde in einen Polizei-Transporter – Avtozak – geworfen, und war verärgert. Kurz zuvor hat mich ein maskierter Uniformierter ohne Dienstmarke – wir nennen sie Banditen – brutal am Hals und an der Brust gepackt. Im Gepäckraum des Transporters sind Metallzellen eingebaut, ich trat gegen die Gitter und schrie die Maskierten an. Sie warfen weiter Menschen in die Zellen, obwohl sie bereits überfüllt waren. Wir waren zu dritt in eine Zelle gepfercht und hatten kaum Luft zum Atmen. Ein Mädchen bekam einen epileptischen Anfall. Einem anderen Mädchen schlug ein Polizist gegen die Beine. Wir wussten nicht, wohin sie uns bringen, unsere Telefone hatten sie konfisziert Schließlich wurden wir zum Hauptquartier der Bezirkspolizei gebracht.

Sie befahlen, dass wir uns an die Wand stellen, mit erhobenen Händen. Es war noch ein Italiener unter uns, er stand unter Schock, aber die Polizei brachte ihn dazu, sich mit uns aufzureihen. Insgesamt waren wir ungefähr 30 Frauen und einige Männer. Wenig später wurden alle Männer nach draußen in die Kälte geschickt. Die Polizei machte sich über uns lustig. Alles, was sie können, ist einschüchtern und demütigen, obwohl es den Gefangenen bereits dreckig geht.

Wie lange dauerte diese Tortur?

Anastasia Kasanowitsch

Anastasia Kasanowitsch, geboren 2003, war Teil der belarussischen Punkszene ihrer Heimatstadt Grodno um Bands wie Messed Up, bevor sie nach Minsk zum Studieren ging. Aufgrund ihrer Protestaktivitäten wurde sie vor wenigen Tagen von der Universität ausgeschlossen. Nun bittet sie um Asyl in Polen.

Vier Stunden, danach wurde ich freigelassen. Zum Glück bin ich noch nicht volljährig, sonst hätten sie mich für 15 Tage eingebuchtet. Draußen wurde ich von wartenden Menschen begrüßt, einige boten mir sofort ihre Hilfe an, andere warteten auf Neuigkeiten von ihren verhafteten Verwandten und Freunden, die drinnen weiter festgehalten wurden. Ich bin sehr dankbar für die große Welle der Solidarität. Uns allen ist bewusst, dass wir uns bald wieder in derselben Situation befinden könnten.

Wie geht es Ihnen jetzt?

Jetzt geht es mir gut, doch ich soll von meinem Studium an der Universität ausgeschlossen werden.

Weil das Foto Ihrer Festnahme um die Welt ging? Gibt es Beistand Ihrer Hochschule?

Notizen aus Belarus

Mehr Geschichten über das Leben in Belarus: In der Kolumne „Notizen aus Belarus“ berichten Janka Belarus und Olga Deksnis über stürmische Zeiten – auf Deutsch und auf Russisch.

Nein, mein Aktionismus bedroht offenbar den Status quo dieser Universität. Da die Verwaltung wie alle weißrussischen Behörden auch zentralisierten Anweisungen Folge leistet, ich aber zu Demonstrationen gehe und sage, was ich denke, bedeutet dies, dass sie die Kontrolle über die Studierenden verlieren und demnach ihre Arbeit nicht gut machen. Noch wurde ich nicht exma­tri­kuliert, aber sie tun alles, um mich zu ­vertreiben – wie mich bei Prüfungen durchfallen zu lasen. Aber ich werde nicht zulassen, dass sie mich rausschmeißen. Auch wir StudentInnen protestieren und kämpfen für unsere Rechte!

Was motiviert Sie?

Ich bin 17 Jahre alt, studiere Sprachen und Geisteswissenschaften und ich bin eine Malerin. Ein sehr bekannter, belarussischer Maler der Moderne – Ales Mara – ist mein Professor. Die amtierende Regierung kann ihren Bürger*innen nichts anderes bieten, als diese zu Untertanen zu versklaven. Lukaschenko betrachtet uns nicht mal als sein Volk. Wir sind für ihn bloß Vieh, das er jederzeit schlachten kann. Denn als Vieh hat man keine Rechte. Jetzt kämpfe ich für meine eigenen Rechte und für die des belarussischen Volkes. Ich kämpfe für die belarussische Muttersprache, unsere Kultur und Traditionen. Die sagen uns nämlich, wer wir waren, wer wir sind und wie wir weiter gehen sollen. Eines der Ziele der Regierung war es, zu verbergen, wer wir als Volk sind, daher ist die nationale Frage sehr relevant.

Fotos von Frauen in weißen Kleidern und mit Blumen sind in den Medien das Gesicht des Protests. Ist diese Verkleidung nicht eine pathetische Romantisierung?

Frauen in weißen Kleidern und mit Blumen sind überhaupt keine Romantisierung. Es wäre falsch, wenn wir nicht weiterkämpfen. Während der Proteste unmittelbar nach der gefälschten Wahl, Anfang August, wurden Tausende gefoltert, vergewaltigt, in Gefängnisse geworfen und sogar getötet. Unser gewaltfreier Protest gegen die unmenschliche Gewalt war die richtige Antwort auf dieses Unrecht. Männer, die aus dem Gefängnis entlassen wurden, sagten, dass wir Frauen für ihre Freilassung verantwortlich sind. Noch immer wirkt die Idee des Frauenprotests. Die Banditen haben Frauen nicht so brutal behandelt wie die Männer, jetzt verhaften sie sie für 15 Tage.

Die Überzeugung – aufgrund negativer Erfahrungen –, die eigene Lebenssituation nicht verändern zu können, wird „erlernte Hilflosigkeit“ genannt, laut der feministischen Aktivistin Vika Biran stecken viele belarussische Frauen in dieser Situation.

Das Bild einer starken, mutigen, klugen, aufopfernden, schönen Frau spielt eine zen­trale Rolle in unserer Kultur. Unser Land war in so viele Kriege verwickelt, mit jedem einzelnen Konflikt verloren wir mehr und mehr Männer. Belarussische Frauen mussten also Männerarbeit übernehmen, allein einen landwirtschaftlichen Betrieb führen, die Kinder großziehen.

Das geschah in einer sehr patriarchalen Gesellschaft. Gibt es eine Chance für mehr Gleichberechtigung?

Ich sehe unsere Gesellschaft als eine matriarchalische, denn: Belarussische Frauen waren nie hilflos. Jetzt kämpfen Frauen und Männer Seite an Seite für ein Ziel – die Emanzipation vom Lukaschismus. Und wir kämpfen füreinander, Frauen kämpfen für Männer und Männer kämpfen für Frauen. Nur durch diese Solidarität und nationale Einheit können wir gewinnen.

Lukaschenko hat seinen Amtseid geheim geleistet, eine erste Wirkung der Proteste. Er droht aber weiterhin mit dem Einsatz der Armee, um seine Macht zu sichern. Was braucht es, um ihn zu vertreiben?

Lukaschenko wurde nicht mal vom Volk gewählt. Diese Tatsache bestätigten alternative Abstimmungsplattformen, Aufzeichnungen von Unregelmäßigkeiten bei der Stimmzählung führten schließlich zur landesweiten Rebellion. Swetlana Tichanowskaja ist die von uns gewählte Präsidentin. Sie muss das Land führen! Lukaschenko hat zwar die Macht der Sicherheitskräfte, er braucht allerdings dafür dringend Geld, um diese Macht zu behalten.

Jetzt verzögern viele von uns die Zahlung von Steuern, kaufen keine Produkte mehr von Unternehmen und Personen, die ihm gehören oder nahestehen. Wir leisten zivilen Ungehorsam durch die Methoden des gewaltfreien Widerstands. Ein Bergmann aus Saligorsk, Juri Korzyn, hat sich aus Protest an eine Mine gefesselt. Im Bezirk Smolewitschi setzte sich Sjargej Radchenja vor der Polizei in Brand. Wir vereinen uns in zivilen Gewerkschaften, wir malen unsere Straßen in unseren Nationalfarben an, schmücken sie mit Ornamenten und Bändern, wir zeichnen unsere Helden an Wänden. Wir legen Blumen an den Ort, an dem unsere Helden getötet wurden.

Die Sicherheitskräfte ziehen sich unter diesem Einfluss zurück, viele von ihnen weigern sich, Anordnungen Folge zu leisten. Inzwischen fehlt den Sicherheitskräften nicht nur das Geld, sondern auch das Personal. Wir glauben daran, dass gewaltfreier Protest Lukaschenkos Regime in die Knie zwingt.

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7 Kommentare

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  • Zitat: „Wir glauben daran, dass gewaltfreier Protest Lukaschenkos Regime in die Knie zwingt.“

    Das glaube ich auch. Aber was wird, wenn Lukaschenko weg ist? Ich meine: Was kam nach der DDR?

    Mag ja sein, dass Frauen und Männer momentan „Seite an Seite für ein Ziel“ und damit irgendwie „füreinander“ kämpfen. Aber dass eine Mehrheit der weißrussischen Männer dauerhaft von einer Frauen regiert werden will, kann ich mir ehrlich gesagt nicht so recht vorstellen. Was, wenn diese Frau ihre „männlichen Qualitäten“ irgendwann nicht ausreichend zu schätzen weiß ihrer Ansicht nach? Aus dem Füreinander könnte dann leicht wieder ein Gegeneinander werden. Dann nämlich, wenn die Männer glauben, sie wären besser ohne die „Hilfe“ mächtiger Frauen dran.

    Frauen, die in Abwesenheit ihrer Männer Männerjobs erledigen, machen noch kein Matriarchat. Ohne Mann Matriarchin zu sein, ist schließlich keine Kunst. Vor allem aber macht ein Matriarchat noch keine Gerechtigkeit. Es tauscht lediglich die Rollen aus. Ohne Rücksicht darauf, dass Frauen auch Menschen sind, und zwar nicht unbedingt die besseren (siehe Hengameh). Für Klassismus, Nationalismus und Faschismus sind auch (ideologisch und psychisch belastete) Frauen anfällig. Dass es abseits des Anti-Lukaschenko-Kampfgetöses kein Konzept für die Zukunft in Belarus zu geben scheint, gibt mir jedenfalls kein gutes Gefühl.

    Ein Glitzerkleid allein nacht jedenfalls niemanden demokratisch. „Stark[], mutig[], klug[], aufopfernd[] [und] schön[]“ waren auch die stalinistischen „Held*innen“ des letzten Jahrhunderts - und die der Nazis. Nach einem heldenhaften Kampf in Schönheit zu sterben, war immer schon ein Traum. Schon bei den Alten Griechen. Ein Traum, den vor allem Despoten gern haben träumen lassen. Ihre Untertanen, meine ich. Ob diese 17jährige Künstlerin das wohl auf dem Schirm hat? Das ihr Prof, der „sehr bekannte[], belarussische[] Maler der Moderne“, es ihr erzählt hat, kann ich mir irgendwie nicht so recht vorstellen.

  • Schön inszeniertes Bild.



    An einem offenbar kalten Septembertag im Partykleidchen gut geschminkt abgeführt und zufällig aus nächsten Nähe dabei fotografiert.

    • @Tripler Tobias:

      Was wollen Sie denn damit sagen?

  • Na herzlichen Glückwunsch! Diese Frau, die die taz uns als Freiheutskämpferin präsentiert, könnte bei den Identitären sein.

    "Ich kämpfe für die belarussische Muttersprache, unsere Kultur und Traditionen. Die sagen uns nämlich, wer wir waren, wer wir sind und wie wir weiter gehen sollen. Eines der Ziele der Regierung war es, zu verbergen, wer wir als Volk sind, daher ist die nationale Frage sehr relevant."

    • @Plüschtiger:

      ja!



      Das am Ende irgendeines angeblichen "Freiheitskampfes" irgendetwas anderes stünde als die Freiheit zu konsumieren, wenn man zu denen gehört, die können, ist mir nicht bekannt.

      Was jetzt da Chile der Siebziger belegen soll, ist mir völlig schleierhaft. 1912 hat man auch "D über alles" gesungen ...



      Der Nationalismus, die Idee der Nation, ist schlichtweg ein veraltetes Konzept. Es wird globale Probleme nicht lösen.

    • @Plüschtiger:

      Nun, die Welt ist eben nicht schwarz-weiß. 1848 wurden auch schwarz-rot-goldene Fahnen geschwenkt, auch von Angehörigen der unterdrückten Schichten, nicht nur vom Bürgertum, und die damals vertretenen Ideen hatten zwar nationalistische, aber eben auch emanzipative Elemente,

      Die Idee des "Volkes" als etwas Positives ist in der deutschen Sprache (zu Recht) vergällt. Aber hören Sie sich mal (linke) Musik z.B. aus dem Chile der 70er Jahre an - da kommt man kaum mit dem Zählen hinterher, wie oft da das Wort "pueblo" vorkommt.

      Es ist eben auch etwas anderes, wenn ein/-e Kurd/-in von ihrer Nation redet, als wenn das ein/-e Türk/-in tut.

      Sicher sind das alles identitätspolitische Ansätze.

      Aber Unterdrückungssituationen schaffen oft erst die Identitäten, über die sich die Unterdrückten definieren und versammeln. Dass das auf die Dauer nicht automatisch zu wirklicher Emanzipation führt, steht auf einem anderen Blatt.

      Mein Eindruck ist, dass in Belarus Lukaschenko mit einer Unterordnung unter Russland assoziert wird, und dass dieser Aspekt die nationale Komponente der Proteste gegen ihn mit antreibt. Letzten Endes ist das von Mitteleuropa aus vielleicht schwer zu beurteilen.

      Aber alle Nationalismen und alle identitätspolitischen Ansätze in einen Topf zu werfen bringt auch nicht wirklich die volle Erkenntnis.

    • @Plüschtiger:

      So gesehen ist die ganze Welt voller Identitärer. Zeit für eine neue Sintflut oder was?