Kuba nach dem Referendum: Der steinige Weg zu mehr Rechten
Kubas neues Familiengesetz ist modern und weitet die Menschenrechte deutlich aus. Aber hätte es überhaupt abgestimmt werden dürfen?
Am offensichtlichsten ist vermutlich die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe und andere Errungenschaften für die LGBTI-Community. Aber das 130 Seiten starke Dokument erweitert auch die Schutzrechte für andere verletzliche Gruppen.
Die Soziologin und Aktivistin Massiel Carrasquero etwa führt aus, dass auch ihr als alleinstehender Cishetero-Frau künftig der Zugang zu künstlicher Befruchtung offensteht – bislang hätte sie dafür verheiratet sein müssen. Gleiches, wie auch das Recht auf Leihmutterschaft und Adoption, steht auch gleichgeschlechtlichen Paaren zu.
Ebenfalls erkennt das Gesetz auch die Multi-Elternschaft an: Es kann also anerkannte Familien mit mehr als zwei Müttern oder Vätern geben. Experten führen aus, dass das Gesetz damit genau jene Dynamiken aufnimmt, die in kubanischen Familien ohnehin schon vorkommen.
Organisierte Kampagnen fundamentalistischer Gruppen
Die Rechtsanwältin und Feministin Alina Herrera betont den Fortschritt, dass Kinderehen in Zukunft verboten sind. Künftig gilt ein Mindestalter von 18 Jahren. Außerdem gibt es mehr Schutz vor innerfamiliärer Gewalt, von Menschen mit Behinderungen und älteren.
Einer der meistdiskutierten Punkt war der Ersatz des Begriffes „elterliche Gewalt“ durch „elterliche Verantwortung“, die im Übrigen zu gleichen Teilen bei Vätern und Müttern liegt. In einem Kontext, wo es noch immer an der Tagesordnung ist, Kinder mit Prügeln und Anschreiben zu „erziehen“, hat dieser Passus eine Menge Widerstand erzeugt.
Zum ersten Mal auch wird explizit Haus- und Sorgearbeit in ihrer wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung anerkannt. Einige dieser Neuerungen sind längst in internationalen Abkommen verankert, die Kuba unterschrieben hat, die aber bislang keine Entsprechung in der nationalen Gesetzgebung hatten.
Der Weg zum neuen Gesetz war nicht leicht. Dagegen standen organisierte Kampagnen fundamentalistischer Gruppen, die auf den „ursprünglichen Zuschnitt der Familie“ pochten und bereits früher ihren Einfluss unter Beweis gestellt haben. Und die politische Opposition stellte sich ebenfalls gegen das Gesetz, mit dem Argument, dass man „in der Diktatur nicht wählen geht“ oder dass es wichtigeres gibt und diese Rechte warten können. Man könne nicht für ein paar Menschenrechte für einige Personengruppen eintreten und für alle anderen nicht.
„Über Würde kann man nicht abstimmen“
Auch die Werbung für ein Ja in den Staatsmedien war keine große Hilfe, denn alles wurde extrem politisiert und ein Ja für das Familiengesetz wurde direkt als Zustimmung zur Regierung dargestellt. Wohl auch deshalb wird es nicht wenige „Denkzettelwähler“ gegeben haben, die durch ihr Nein zum Familiengesetz ihre Ablehnung der Regierung zum Ausdruck bringen wollten.
„Ich glaube, die jungen Leute waren die besten Fürsprecher des Gesetzes“, sagt die 34-jährige Philologin Grettel Escalona. „Unsere Generation versteht Fragen von Respekt leichter. Aber es gibt auch die ältere Generation, die sich damit schwertut – nicht nur mit der Homoehe an sich, sondern vor allem mit der Idee, dass so eine Familie Kinder haben darf.“
Dazu kommen Machismus und Homophobie, die noch immer der kubanischen Gesellschaft innenwohnen. Und darüber hinaus kommt die ganze Debatte in einem Moment schwerster Wirtschaftskrise, in der die Menschen weder Zeit noch Muße haben, sich mit viel anderem zu beschäftigen als dem täglichen Überleben. Oder wie es der LGBTI-Aktivist Según Ulises Padrón Suárez, ausdrückt: „Unser einziger Vorteil ist es, dass wir Recht haben.“
Aber es gab auch noch eine andere Debatte. In den Worten des kubanischen Intellektuellen Julio César Guanche: Über Würde kann man nicht abstimmen. Per Referendum zu fragen, ob eine Mehrheit damit einverstanden ist, anderen Rechte zu gewähren, ist verfassungswidrig und widerspricht der Essenz der Menschenrechte: Sie sind unveräußerlich und unverhandelbar. „Das zur Abstimmung zu stellen öffnet Tür und Tor für die Autokratie, selbst wenn es zunächst demokratisch erscheint, wird doch die „Volkssouveränität“ bemüht.“
Entweder Ja stimmen, oder alles bleibt, wie es ist
Und natürlich gab es auch den Vorwurf des pinkwashing. Tatsächlich ist noch nie seit 1959 irgendein Gesetz per Referendum zur Abstimmung gestellt worden. Aber die Optionen waren jetzt halt diese: Entweder Ja stimmen, oder alles bleibt, wie es ist. Die queere Akademikerin Yasmin Portales sagte in einem Interview: „Ja, es ist beleidigend und furchtbar, Menschenrechte zur Abstimmung zu stellen. Aber wenn das der Weg ist, dann muss man ihn gehen. Sonst akzeptiert man gleich die Niederlage.“
Krise ist ein zu kurzes Wort. Man versteht es besser, wenn man weiß, dass es in Kuba stundenlange Stromabschaltungen gibt, dass Medikamente und Essen fehlen und der kubanische Peso jeden Tag weniger wert ist. Allein in den letzten Monaten sind fast 200.000 Kubaner in die USA geflohen – der größte Massenexodus unserer Geschichte. Hunderte sitzen noch immer für ihre Teilnahme an den Protesten des 11. Juli 2021 im Gefängnis, davon einige mit Haftstrafen von 20 bis 30 Jahren.
Das ist also die Lage, in die ein solches Gesetz hereinplatzt, wie ein Versprechen auf ein gerechteres Land. „Ich habe mit Ja gestimmt, weil ich eine drei Jahre alte Tochter habe“, sagte Grettel Escalona, „damit sie keine Angst hat zu sein, was immer sie sein will, damit sie glücklich wird mit der Art Familie, die sie einmal gründen will.“
Manche meinen, dass die kubanische Gesellschaft für ein so modernes Familiengesetz nicht bereit ist, und wahrscheinlich haben sie recht. Es gibt seit Jahrzehnten kaum oder keine Kultur der Rechtsprechung, der Debatte, der Unterschiede. „Wir leben noch immer in einer konservativen Gesellschaft“, sagt Anwältin Herrera, „und das ist besorgniserregend.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Klimakiller Landwirtschaft
Immer weniger Schweine und Rinder in Deutschland