Krise in Armenien: Die Revolution öffnet Horizonte
Nach dem Rücktritt des Premiers begehen die Armenier den Jahrestag zum Gedenken an die Opfer des Genozids von 1915. Politisch ist alles offen.
Schon seit zehn Tagen demonstrierte die Opposition dagegen auf dem Freiheitsplatz in der Hauptstadt und anderen Städten. Von drei Millionen Einwohnern Armeniens beteiligten sich mindestens hunderttausend bei den Protestaktionen.
Tanz, Musik und Gesang unterstützt von Hupkonzerten und Armeniens Trikolore beherrschten in der Nacht das Straßenbild. Das Volk wollte es zunächst gar nicht glauben. Unerwartet war Sersch Sargsjan am Montagnachmittag zurückgetreten. Er zeigte sogar Reue und zollte auch dem Herausforderer Nikol Paschinan Respekt. Die Opposition klagte über Vetternwirtschaft, Korruption und mangelnde Transparenz.
Dass ein führender Politiker in einem postsowjetischen Staat zurücktritt und auch noch Fehler eingesteht, ist sehr ungewöhnlich. Beobachter sehen darin einen Reifeprozess in der kleinen Republik. Die Freude ist riesig. Auch bei den Ingenieurstudenten Aschot Adschamoglan und Artasch Marguyan von der Eriwaner Universität. Für sie war der 63-jährige Politiker ein Gegner, aber kein Feind.
Nicht zum Feind erklärt
Das Volk hatte den Rücktritt erzwungen. Dennoch wurde Sargsjan nicht öffentlich zum Feind erklärt. Die Ingenieurstudenten würden sich für den Oppositionellen Nikol Paschinjan als Nachfolger an der Staatsspitze entscheiden.
Doch das ist längst noch nicht ausgemacht. Es wären auch andere Lösungen denkbar, sagen sie. Ihnen ist Erleichterung anzumerken, jedoch nicht, weil eine Tyrannei zu Ende geht. So schlimm sei es nicht gewesen, meinen sie. „Jetzt eröffnet sich jedoch wieder eine Zukunft, an die wir auch glauben können.“
Zwei Studenten in Jerewan
Am Mittwoch trifft sich der Vize Sargsjans, Karen Karapetian mit dem Oppositionellen, um über einen Umbau des Machtgefüges zu verhandeln.
Im Vorfeld war es die Hartnäckigkeit Paschinjans, die Sargsjan zum Rücktritt bewog. Noch 2008 waren bei Protesten gegen Sargsjans Präsidentenwahl zehn Demonstranten zu Tode gekommen. Daran erinnerte Sargsjan, es klang wie eine Drohung, noch am Sonntag, als er sich kurz mit dem Oppositionsführer traf.
Lieder auf dem Freiheitsplatz
Ein neues Blutvergießen am Vorabend des nationalen Feiertages am 24. April sollte vermieden werden. Die Armenier gedenken an diesem Tag des Genozids am armenischen Volk im Osmanischen Reich 1915.
Auch die „samtene Revolution“ nahm sich gestern einen Tag frei. Niemand demonstrierte mehr in der Innenstadt. Einige sangen auf dem Freiheitsplatz noch Volkslieder, den die Stadtverwaltung von den Resten des zehntägigen Camps hatte reinigen lassen. Freude war aber überall zu spüren, einander fremde Passanten gratulierten einander zum „Sieg“.
Zehntausende zogen am Morgen zur nationalen Gedenkstätte auf den Hügeln Jerewans. Von der gegenüberliegenden Seite glänzte der schneebedeckte Ararat in der Sonne. Armenien nennt den Gipfel seinen höchsten Berg. Auch wenn das armenische Wahrzeichen heute auf dem Gebiet der Türkei liegt.
Vertreter der Regierung und der armenischen apostolischen Kirche waren unter den ersten Pilgern. Am Rande kommentierte eine Frau, wie „volksnah die Elite sich plötzlich“ aufführe. Kolonnen von Soldaten und uniformierten jungen Leuten waren unter den Besuchern. Armenien zählt zu einem der wehrhaftesten Staaten der Welt.
Unumstößliches Gesetz
Die Türkei als Bedrohung ist im armenischen Bewusstsein mehr als präsent. Die Auseinandersetzung um die Enklave Berg-Karabach nach dem Ende der Sowjetunion ließ alte Ängste und Vorbehalte gegenüber den turksprachigen Azeris aus Aserbaidschan wieder aufleben.
Bislang herrschte ein unumstößliches Gesetz in Jerewan: Wer in Armenien regieren will, muss sich Sporen im Konflikt um Karabach erworben haben. Sersch Sargsjan war ein Kommandeure an der Front in Karabach. Ob vom nächsten Premier auch eine militärische Vita verlangt wird, ist offen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Außenministertreffen in Brüssel
„Europa spricht nicht die Sprache der Macht“