Krise der Sozialdemokratie: Meine Mutter, die SPD und ich
Die Mutter unserer Autorin ist seit über 40 Jahren in der SPD. Sie leitete lange einen Ortsverein, heute ist ihr die Partei fremd geworden. Wie kam es dazu?
Wenn die SPD eine Wahl verliert, ist meine Mutter oft im Fernsehen zu sehen. 2009 fuhr sie zur Party nach der Bundestagswahl ins Willy-Brandt-Haus. Damals hatte die Partei schon schlechte Umfragewerte, Frank-Walter Steinmeier hatte als Spitzenkandidat einen mäßig inspirierten Wahlkampf geführt, aber als die ersten Hochrechnungen kamen, war das doch ein Schock: nur 23 Prozent.
Wenn meine Mutter erstaunt ist, reißt sie die Augen auf und formt die Lippen zu einem schmalen O. An diesem Abend hielt eine Kamera des ZDF direkt drauf. Seitdem benutzt der Sender diese Bilder immer wieder bei SPD-Niederlagen, zuletzt nach der Landtagswahl in Hessen im Oktober.
Ich rufe meine Mutter schon länger nicht mehr an, wenn ich traurig bin. Nach den letzten beiden Wahlen war das anders. „Und, wie geht es dir mit dem Ergebnis?“, fragte ich. Sie sagte: „Ja, nicht gut. Ich habe richtig Sorge.“
Meine Mutter ist 1973 in die SPD eingetreten, mit 21 Jahren. Lange Jahre war sie Vorsitzende eines Ortsvereins mit 60 Mitgliedern und stellvertretende Bürgermeisterin einer Gemeinde im Landkreis Osnabrück, westliches Niedersachsen, geprägt von Schweinezucht und Legebatterien. Tiefschwarz alles, und da war sie in der SPD.
Ich habe die SPD vielleicht auch mal gewählt, kann sein, ich mag mich daran nicht erinnern. Es gab aber nie eine Partei, der ich meine Stimme gern gegeben habe. Ich habe sie immer bunt verteilt. Dass die SPD nun qualvoll stirbt, betrifft mich aber, weil ich einmal an ihre soziale Politik geglaubt habe. Die SPD war in meiner Kindheit ein Zuhause. So vertraut wie für manche die Furnierschrankwand im elterlichen Wohnzimmer waren für mich weiß-rote Kugelschreiber und Broschüren mit Fotos meiner Mutter. Und zu diesem Zuhause gehörte auch das Versprechen von Gerechtigkeit, das ich mit dem Wort „Genosse“ verband.
„Schröder“, nicht mehr „Gerd“
Heute spricht meine Mutter von „Schröder“, nicht mehr von „Gerd“. Die Partei ist ihr fremd geworden, sie engagiert sich nicht mehr. Ich möchte wissen, wann das kaputtging, das zwischen meiner Mutter und der SPD. Wie sich die politische Heimat meiner Kindheit auflöste. Also fahre ich mit meiner Mutter noch mal hin, zu ihrer alten Gemeindefraktion.
Auf dem Weg zur Fraktionssitzung ihres früheren Ortsvereins fahren wir an einem Pferdegestüt vorbei, das der Familie eines früheren Schulfreunds gehört. Meine Mutter erzählt, dass die Besitzerin mal bei uns zu Hause anrief und sich beklagt habe, ich hätte ihren Sohn ein „Kapitalistenschwein“ genannt. Meine Mutter behauptete am Telefon, ein solches Vokabular würde bei uns nicht gebraucht, dabei stimmte das gar nicht.
Heute sagt das keiner mehr. Und vielleicht ist das Teil des Problems, dass auch in der SPD keiner mehr „Kapitalistenschwein“ sagt.
Die alte Fraktion meiner Mutter trifft sich in den Räumen der Arbeiterwohlfahrt: gelb gemusterte Papiertischdecken, rotes Plastiklaub, Bier mit Tequila-Geschmack. Fünf Leute sitzen da. Die zwei Frauen in den Vierzigern waren mal Schülerinnen meiner Mutter, die Kunst und Arbeitslehre an einer Gesamtschule unterrichtet hat.
Egal, welche Partei die Straßen flickt
Die eine Frau kenne ich noch von früheren Ausflügen. Den Mann daneben, ungefähr in meinem Alter, so Mitte dreißig, kenne ich nicht. Auch den Fraktionsvorsitzenden nicht. Dann ist da noch der Bürgermeister, den kenne ich, der ist seit Ewigkeiten dabei. Seit 2001 ist er der erste SPD-Bürgermeister in der Gemeinde. Er sieht so aus, wie man sich den Bürgermeister bei Benjamin Blümchen vorstellt, mit gemütlichem Bauch. „Dich muss ich erst mal drücken“, sagt er zu meiner Mutter. Und macht das mit norddeutscher Herzlichkeit.
Lange wurde in der Gegend nur CDU gewählt. Mittlerweile sei die Partei bei Kommunalwahlen egal, da gehe es um die Person, sagen sie hier. Der SPD-Bürgermeister ist so beliebt, dass die CDU sogar auf Gegenkandidaten verzichtet hat. Wenn man die Leute in den Ratssitzungen reden höre, könne man oft gar nicht sagen, wer zu welcher Partei gehöre, sagt eine der Frauen am Tisch. Es sei egal, welche Partei die Löcher in den Straßen flicke, sagt meine Mutter.
Drei Tagesordnungspunkte gibt es bei der Fraktionssitzung, dann Sonstiges. Grundstücksgrenzen, Asphalt und Probleme mit neumodischer Vorgartengestaltung. Weil immer mehr Hausbesitzer ihre Grundstücke mit Steinen und dickfleischigen Immergrünpflanzen gestalten, finden die Bienen kaum genug Blüten. Wenigstens die AfD ist hier kein Problem.
Meine Mutter hört zu und isst AWO-Schokolade, sie faltet das Papier ordentlich zusammen, manchmal nickt sie. Sie wirkt, als hätte sie das alles nicht besonders vermisst. Nur bei der Turnhalle horcht sie auf. Seit 25 Jahren soll die gebaut werden. „Dass die immer noch nicht fertig ist“, sagt meine Mutter und schüttelt den Kopf. Wenn jetzt in Berlin die Koalition platze, flössen die schon zugedachten Bundesgelder nicht, fürchtet die Fraktion. Keine Sorge, vor Weihnachten passiert da nichts, sagt der Bürgermeister.
Die SPD als Provokation
1980 ziehen meine Eltern, die beide als Lehrer an einer Gesamtschule arbeiten, in die Gemeinde. Zwei Jahre später werde ich geboren. Unser Dorf besteht aus vier Bauernhöfen und drei weiteren Häusern. Weizenfelder, Kuhweiden. Wir sind Zugezogene und meine Mutter bei der SPD. Das reicht schon, um nicht nur Freunde zu haben. Außerdem raucht meine Mutter Marlboro Light, engagiert sich gegen Baumfällungen, spinnt die Wolle unserer Hobby-Schafzucht. Sie ist im Emsland aufgewachsen, klassisch nachkriegskonservativ, ihr Vater wählte immer CDU. Dass sie zur SPD ging, war wohl Provokation. Die Grünen gab es ja damals noch nicht.
Mir war als Kind der Regenwald wichtig. Ich malte Plakate mit vielen Bäumen und hängte sie in Supermärkten auf. Wir hatten ein Western-Windrad, mit großen gelben Flügeln, das Strom machte und auf das man klettern konnte – und das war ein Problem auf dem Land, das Anderssein.
Drohungen, Anfeindungen, körperliche Gewalt in der Kneipe, die Welt der Filterkaffee-Trinker konnte auch schnell feindlich werden. Ich erinnere mich an die Bilder vom Messer-Attentat auf Oskar Lafontaine 1990. Wie die braunen Stühle unordentlich dort standen, das weiße Kleid der Täterin, die Rosen. Was blieb, war ein Gefühl von „Wir gegen die“, ein wohliges Gefühl.
Ich bin in dem Jahr geboren, als Helmut Kohl Kanzler wurde. 16 Jahre aufgewachsen mit diesem schmierigen Wohlstands-Grinsen. Und mit dem Gefühl der Machtlosigkeit. Dort die Schlechten, wir die Guten. Solidarität, sich kümmern. Das Gute war für alle da. „Gemeinsam sind wir stark“, „Freu dich auf den Wechsel, Deutschland“, solche Plakate klebte die SPD damals. Links sein, das war für meine Mutter, fortschrittlicher zu sein, aufgeklärter, „nicht so engstirnig“. Heute möchte sie anstatt „links“ lieber sagen: Neues wagen.
Gemeinderat, Bauausschuss, Jugendausschuss
Meine Mutter hatte zu Hause viele Ordner im Regal. An den Abenden musste sie zu Sitzungen. Gemeinderat, Bauausschuss, Jugendausschuss. Sie war in der ASF, der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen. Und sie war stolz, weil in ihrer Ratszeit mehr Frauen als Männer in der Fraktion saßen. Erstmalig. Sie machte auch eine Ortsvereinszeitung, die hieß moment mal. Darin standen Sätze wie: „Der Staat leistet sich den Luxus, Spitzenverdienern ihre Haushaltshilfe, teure Geschäftsreisen und sogar Schmiergelder steuerlich zu bezuschussen.“
Der Ortsverein bestand aus Menschen in beigen Jacken, mit rosa Wangen, manchmal Paare, ein Tierarzt, klein und graue Haare, viele Lehrer wie meine Eltern, außerdem Polizisten, Maurer. Meine Mutter fing dort als Schriftführerin an und wurde Anfang der 90er zur Vorsitzenden gewählt. Manchmal fuhren sie in Bussen irgendwohin und ich durfte mit. Es gab Kegelabende mit Bier – und für mich Fanta und Kekse aus Metalldosen.
Im Herbst 1992 stand meine Mutter weinend im Bad, einen lila Waschlappen in der Hand, durch die geöffnete Tür hörte man das Radio. Sie weinte, weil „Willy“ gestorben war. Ich war zehn und machte mir Sorgen. Dass sie wegen Willy Brandt geheult habe, könne sie sich wirklich nicht mehr vorstellen, sagt sie heute.
Kurze Zeit später, 1993, hat die Partei in einer Urwahl über ihren Kanzlerkandidaten abstimmen lassen. Die Basis, das waren damals noch 870.000 Mitglieder. Und die Urwahl versprach Teilhabe. Wir waren die Partei. Es war ein guter Sommer. Ich spielte probeweise Fußball und entschied mich dann doch für Judo. Beim Ballett sagte man, ich sei zu dick. Obwohl ich gar nicht dick war. Ich glaube, meine Mutter freute das. Ballett, das waren wir nicht, das waren die anderen.
Ein Kribbelgefühl am Wahlabend
Meine Mutter baute für die Abstimmung über den Kanzlerkandidaten das Schützenvereinsheim zum Wahlbüro um. Dafür musste man große Pappen auf die Tische gegenüber dem Schießstand stellen und jeweils einen Kugelschreiber anbinden. Meine Mutter stimmte dann nicht für Wieczorek-Zeul, obwohl sie für sie war und nicht für Scharping, nicht für Schröder. Das sei eine verschenkte Stimme, sagte sie. Ich verstand das nicht: Wenn sie möchte, dass sie gewinnt, warum stimmt sie dann für einen anderen? Es war mein erster Kontakt mit Realpolitik.
Ich freute mich als Kind, wenn sonntagabends in der „Lindenstraße“ die ersten Hochrechnungen kommentiert wurden, weil meine Eltern sich freuten. Bei den Worten „erste Hochrechnung“ hatte ich lange Zeit ein Kribbelgefühl wie beim Gedanken an Silvester.
Über Zeitungsartikeln der Lokalpresse, die meine Mutter ordentlich abheftete, standen Überschriften wie „SPD fordert die Rücknahme der Kindergarten-Sparbeschlüsse“, „SPD befasste sich mit der Asylproblematik“, auch einen empörten Leserbrief an das Kreisblatt heftete sie ab, in dem sie sich beschwerte, die Zeitung würde nur im Sinne der CDU berichten. Aber einmal schrieb die auch, wie meine Mutter dem Gegner der CDU einen „Hang zur Polemik“ vorwarf . Ihre Streitlust fand ich „cool“, so sagte man damals noch.
Zur Wahl 1994 machte meine Mutter eine Broschüre, in der stand, dass die Ausgaben für „Steuerkriminalität“ viel höher seien als für Sozialhilfe. Die Plakate der CDU zeigten in diesem Jahr rote Socken. Bei der Wahl musste ich dann allein draußen vor dem Wahlbüro warten, weil ich mit einem SPD-Luftballon spielte. Als Wahlwerbung sei der an der Urne verboten, sagten die Wahlhelfer. Meine Mutter war empört und ich fühlte uns in eine Außenseiterrolle geschoben, die es einfacher machte, zu glauben, wir seien im Recht.
Dann war „Gerd“ Kanzler
Dann verlor Kohl die Wahl, ich war 16 und es kam mir wie eine Erlösung vor. Im Wahlkampf hatte meine Mutter für Schröder gekämpft, er habe sich in Niedersachsen „nachhaltig um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gekümmert“, sagte sie auf einer Veranstaltung. Dann war „Gerd“ Kanzler. Es gab Sekt und Freudenschreie. Es war ein bisschen so, als würde einem endlich das Haus gehören, in dem man wohnt, endlich die Fassade streichen, endlich das Dach ausbessern. „Endlich mal regieren“, sagte meine Mutter.
Ulla Schmidt, Franz Müntefering und Peter Struck, die waren wie entfernte Verwandte: sympathisch und fremd. Im Dorf hatten sie keine große Bedeutung. Und die Freude über den Sieg von Rot-Grün verblasste. „Jetzt müssen wir aber …“, sagte meine Mutter.
Und dann hatte man bald immer wieder das Foto vom Wahlabend im Kopf, von Gerd, Joschka und Oskar, ihre Champagnerschalen haltend, feist grinsend. Mit der Macht kamen Hartz IV, Scharpings Pool-Fotos und schließlich die Vertrauensfrage. Eine neue Sozialdemokratie, die sich um die kümmerte, die gar nicht in unserem Bekanntenkreis waren. Genosse der Bosse. Natürlich tranken meine Eltern auch Barolo, aber nur vom Aldi.
Trotzdem sprach meine Mutter manchmal, als sei sie mit in der Regierungsverantwortung. Während sie noch mit Sach- und Fraktionszwang argumentierte, wurde alles immer schlimmer. Niemand verstand die Riesterrente, Agenda 2010, Arbeitslosengeld II.
Ein rotes Mazda-Cabriolet
Wer bestimmen darf, macht auch Fehler. Geht nicht anders. „Schlimmer als mit der CDU kann es ja nun nicht werden.“ An diesem Satz hielt sich meine Mutter in den späten Jahren von Rot-Grün noch lange fest. „Politische Träume sind wirklich etwas anderes, als echte Politik machen zu müssen“, sagt sie heute. „Aber diesen Schröder-Scheiß, Hartz IV, das habe ich schon als nicht sozial empfunden.“
In der Endphase von Rot-Grün wurde meine Mutter zum Realo und legte sich schließlich ein rotes Mazda-Cabriolet zu. Ich freute mich für sie, denn sie gönnte sich selten was.
Ich musste dann los, unser Dorf und die gemeinsame SPD-Heimat hinter mir lassen. Ich fuhr auf der Schnellstraße entlang verschiedener Politisierungsmöglichkeiten: Studium, Anti-Nazi-Demos, Freunde mit interessanten Ideen von der Welt. Ich arbeitete mehr durch Zufall kurz als Pressesprecherin eines PDS-Kandidaten und sollte die meiste Zeit nur darauf achten, ob seine Socken zur Krawatte passten.
Kuschelige Popkultur
Als meine Mutter 21 war, trat sie in eine Partei ein, sie glaubte an Gerechtigkeit und entwickelte daraus ein großes Pflichtgefühl. Ich dagegen fand statt einer politischen Heimat eine kuschelige Popkultur. Ich zog nach Berlin, wo es in den Clubs keine Parteien gab, aber die Idee einer milieuübergreifenden Szene. Das Versprechen lautete: Jeder kann dabei sein. Jedes Hyperindividuum. Die große gemeinsame Erzählung aber fehlte. Politische Identität war nur ein nachgeordneter Teil in der Erzählung des eigenen Lebens.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
An den Wahlabenden äffte ich mit Freunden eine Zeit lang die Floskeln der Parteipolitiker nach: „Klarer Auftrag“, „Verlust abgewendet“, „gestärkt einziehen“. Erst war das noch lustig, dann war es lächerlich. Ich habe heute vergessen, was ich bei vielen Wahlen angekreuzt habe, weil es mir egal war. Ein paarmal habe ich „Die Partei“ gewählt, weil ich mir die Finger nicht schmutzig machen wollte. Weil der Zynismus sich als Ehrlichkeit verkleidete.
Eine Kindheit mit der SPD machte aus mir keine sozial engagierte Person. Die SPD gewann mich nicht, und sie verlor gleichzeitig das Engagement meiner Mutter.
Denn meine Mutter spielte jetzt mehr Solitaire auf dem Computer, sie fuhr Rennrad und begann Saxofon zu lernen. 2006 hat sie dann all ihre politischen Mandate abgegeben. Eine Krankheit machte es ihr leichter. Wenn ich sie heute nach den Gründen frage, sagt sie: „Es war mir zu viel. Ich fühlte mich überfordert. Immer wurde man angemacht, man war der Mülleimer für alle Menschen, die sich über die da oben aufregen wollten.“
Urkunde, Blumenstrauß und Handtuch-Set
2013 hat sie eine Urkunde für vier Jahrzehnte Parteimitgliedschaft bekommen, einen Blumenstrauß und ein Handtuch-Set. Das hatte sie sich gewünscht, etwas Nützliches. „Der politische Rückzug war auch Enttäuschung über den Verrat am sozialen Gedanken, aber parallel dazu hat sich die Gesellschaft eben auch entwickelt, es gab nicht mehr so viele Arbeiter, für die wir uns einsetzen müssen“, sagt meine Mutter, auch wenn sie schon vor Längerem entschieden hat, nicht mehr bei Amazon zu bestellen, weil sie die Arbeitsbedingungen dort ablehnt.
„Mit der Regierungsbeteiligung bin ich viel angreifbarer geworden. Vorher waren wir die, die immer ‚Geht so nicht!‘ geschrien hatten. Und dann lief es nicht so viel besser als bei den anderen.“
Meine Mutter packte nach dem Parteijubiläum die Handtücher ein und zog in die nächste große Stadt – mehr Anonymität schafft auch weniger Pflichtbewusstsein. Sie fing an, als Hobby bunte Monsterpuppen zu nähen, die die Zunge rausstrecken konnten. Das Aufgeben der Politik war für sie vielleicht auch das Aufgeben eines Selbstbildnisses. Und ich glaube, sie nahm sich selbst auch nicht mehr wichtig genug, um Politik zu machen.
Meine Mutter und ich haben dann kaum mehr über Politik geredet, nur noch über mein Kind, ihren Enkel. Als der Schulz-Zug angerollt kam, rief meine Mutter aber mit aufgekratzter Stimme an: „Das könnte noch was werden!“ Es waren kurze Wochen der Euphorie. Als nach der erneuten Niederlage und dem Scheitern von Jamaika die SPD-Basis über eine neue Große Koalition abstimmte, hat meine Mutter nicht mehr mit abgestimmt. Könne man ja eh nichts machen, was soll’n sie denn tun?
Die AWO-Schokoladentäfelchen bei dem Fraktionstreffen sind jetzt aufgegessen, mittlerweile wird diskutiert, wie die SPD noch zu retten sei. Die komplette Spitze austauschen? Am Tisch herrscht Uneinigkeit. Der Bürgermeister sagt: „Nä.“ Der jüngere Mann sagt: „Es täte jetzt schon langsam mal gut, wenn Kevin kommen würde.“ Die Sozialdemokratisierung der CDU müsse aufhören, finden alle. Neue Themen setzen, sagt der Bürgermeister, die gäbe es ja: Werksarbeit abschaffen. Fachkräfte stärken. Mindestlohn auf 12, 13 Euro anheben.
Wer mitmacht, bleibt meist dabei
34 Mitglieder hat die SPD in Mutters früherem Ortsverein, nachdem er sich einmal aufgeteilt hatte. Ziemlich gleich ist die Mitgliederzahl hier in den vergangenen 20 Jahren geblieben. Zwei jüngere sind nach der Bundestagswahl dazugekommen. Und wer mal mitmacht, bleibt meist dabei. Das sei hier so. Das Nicht-Mitmachen sei vor allem dem Zeitmangel geschuldet. „Alle am Arbeiten, organisieren die Kinder weg, die Familienstruktur hat sich geändert, wann bleibt da noch Zeit?“, fragt der Bürgermeister.
Meine Mutter steht auf und setzt sich zu ihrem Enkel, der am Nebentisch warten und spielen muss, wie ich früher. Als ich die Gruppe frage, ob sich die SPD denn nun auflöse, geht meine Mutter mit dem Kind raus, um im Flur laut Fußball zu spielen, als wolle sie deutlich machen, dass sie mit alldem nichts mehr zu tun hat.
Als wir nach Hause fahren, frage ich, warum sie aufgestanden ist. „Ich dachte nur: Oh Gott, wie gut, dass ich das alles nicht mehr machen muss.“ Und, willst du austreten? „Nein, sicher nicht.“ Dann lacht sie und sagt, das erledige sich ja wohl von allein. Über 460.000 Mitglieder hat die Partei nur noch. Kann man die einfach so auflösen? Letztens habe sie geträumt, dass die SPD das Willy-Brandt-Haus verkauft, weil die Partei pleite sei, sagt meine Mutter.
Warum willst du die Welt nicht mehr verbessern, Mutter? „Ich will mich nicht mehr verantwortlich fühlen.“ Ich sage was von Olaf Scholz' Lügen nach dem G20-Gipfel, dem Ekel vor Karrieristen wie Tim Renner, dem verlachten Ex-Kulturstaatssekretär in Berlin, von unserer Ferne zu Andrea Nahles, die ihrer Tochter aus der Bibel vorliest. Da wird meine Mutter stiller.
„Ich will mich für so was nicht mehr rechtfertigen müssen“
Als ich ihr erzähle, dass Sigmar Gabriel als Autor für einen Verlag bis zu 30.000 Euro im Monat verdient und vermutlich viel weniger schreibt als ich, sagt meine Mutter: „Sauerei“. Eine kurze Pause: „Ich will mich für so was nicht mehr rechtfertigen müssen“, sagt sie dann lauter und sticht mit dem Zeigefinger in die Luft.
In unserer alten Heimat gibt es jetzt eine Kneipe, die „Alte Heimat“ heißt. Mit Pulled Pork Burger und Livemusik. Als wir vorbeifahren, meckert meine Mutter, dass die Spätaussiedler, die Russlanddeutschen, AfD wählen würden. Warum sie das machten, kann sie sich nicht erklären. „Die haben doch alles“, sagt meine Mutter. So was hätte sie früher nicht gesagt.
Sind wir vielleicht doch immer konservativer gewesen, als wir von uns dachten? „Ich bin konservativer geworden“, sagt meine Mutter. „Egoistischer auch. Aber wer guckt denn nicht erst vor seiner Haustür? Die Idealisten, aber werden die nicht belächelt?“
Meine Mutter ist jetzt im Seniorenbeirat in der Stadt, in der sie lebt. Sie setzt sich für Techniklotsen ein, die älteren Menschen bei der Digitalisierung helfen sollen. Und auch das Angebot von Seniorenportionen in Restaurants fände sie eine gute Idee, weil der Hunger kleiner wird, so wie man selbst. „Im Alter ist man nicht mehr so mutig. Früher war da ein Ziel, da war eine Empörung und die hat man herausgeschrien und hinterher geschaut, wie man mit den Prügeln umgeht.“
Ist die SPD CDUisiert worden?
Manchmal geht meine Mutter noch zum Sommerfest des neuen Ortsvereins, da seien viele junge Leute, alle sehr vernünftig, die würden nicht so laute Forderungen stellen wie sie früher. „Aber die brauchen mich hier nicht, ich kenne mich mit Stadtthemen auch nicht aus. Ich habe an den Wahlkampfständen gestanden und mich unwohl gefühlt.“
Trotzdem glaubt meine Mutter daran, dass die sozialen Themen in der SPD immer noch am besten aufgehoben sind. Warum genau, kann sie nicht sagen. Sie wählt die Partei auch immer noch. „Die Unterschiede zwischen Arm und Reich, da könnten sie schon mehr Stellung beziehen.“
Vielleicht ist die SPD ja eher CDUisiert worden als andersrum? Und vielleicht wurde vergessen, dass Linkssein auch bedeutet, das Selbstverständnis den Umständen anzupassen? Oder war die SPD, waren wir nie so sozial, wie wir gedacht haben? Meine Mutter zuckt mit den Schultern.
Am Abend der Hessenwahl wollte ich zur Wahlparty ins Willy-Brandt-Haus, Katastrophentourismus. Aber die machen nicht mal mehr Partys zu Landtagswahlen.
Der vermaledeite Glaube an Solidarität
Stattdessen stellte ich den Livestream der ARD an. Da erklärte die Frau von der SPD, es gebe eine „Vertrauens- und Glaubwürdigkeitskrise“. Trotz aller Kompetenzzuschreibungen. Und dann sagt es noch eine SPD-Frau genauso. Und dann auch noch mal Thorsten Schäfer-Gümbel. Sein Team um ihn herum hat Tränen in den Augen.
Die CDU hat zwar an diesem Abend fast gleich viel verloren, aber ihre Vertreter weinen nicht. Sie lächeln und nicken sich motivierend zu. Meine Mutter macht das wütend, diese Verlogenheit.
Das ist der Unterschied zur CDU, dieser Rest Menschlichkeit der SPD. Und dieser Unterschied ist mit dem vermaledeiten Glauben verbunden, echte, fühlende Menschen müssten doch solidarisch sein. Dass sie es oft nicht sind, das ist der Grund, warum meine Mutter manchmal im Fernsehen ist und so erschrocken guckt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga