Krise der Sozialdemokratie: Ein wildes Buch
Der Ex-Linken-Abgeordnete Ulrich Maurer hat ein Buch zum Niedergang der SPD veröffentlicht. Die Substanz ist dünn, die Lektüre lohnt trotzdem.
Selbst wenn es um die Zeit der Agenda 2010 geht und damit um die Fehler der Parteirechten, verschont Walter die SPD-Linke nicht: „Die parteiinterne Opposition hatte außer Defensivparolen wie ,Hände weg vom Sozialstaat' nicht viel zu bieten. Denn die sozialdemokratischen Opponenten drückten sich verstockt vor dem Problem, dass der beitragsfinanzierte deutsche Sozialstaat in der Tat wenig produktionsinvestiv war, dass er in Zeiten der Stagnation die Arbeitsmarktprobleme gar noch verschärfte und für staatliches Engagement diesseits der Sozial- und Rentenpolitik zu wenig Raum und Ressourcen übrig ließ“, schreibt er.
Walter ist in den letzten Jahren wegen einer schweren Krankheit als Autor weitgehend ausgefallen. Wie sehr er fehlt, wurde am Freitag deutlich, als in Berlin der frühere Parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion im Bundestag, Ulrich Maurer, sein Buch „Wars das? Ein Nachruf auf die SPD“ vorstellte. Maurer, 69, wechselte 2005 von der SPD zur WASG. Zuvor war er von 1987 bis 1999 Landesvorsitzender der SPD in Baden-Württemberg, bis 2003 Mitglied des SPD-Bundesvorstands.
Der Termin im Goldenen Saal des Berliner Jakob-Kaiser-Hauses war so wild wie das Buch selbst: Gregor Gysi, der das Buch vorstellen sollte, redete, was er immer redet (aber unterhaltsam); die wenigen anwesenden Journalisten hatten das Buch kaum gelesen (und fragten Allgemeines zur Linkspartei), der letzte Vorsitzende des DDR-Ministerrats, Hans Modrow, hielt zwischenzeitlich eine kurze Rede über Dies und Das (und die Vereinigung von Korea). Maurer selbst sprach viel zur Linkspartei und wenig zur SPD.
Der Titel täuscht
Das Buchtitel selbst täuscht: Die SPD selbst betreffen nur einige Kapitel, dazwischen geht es um Maurers Biographie, linke Programmatik, Wagenknechts Sammlungsbewegung und Care-Arbeit.
Ein Sammelsurium, das schon im ersten Absatz des Prologs unfreiwillig komisch wirkt, wenn Maurer die Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten am 22. März 1918 mit der Berufung des Goldman-Sachs-Managers Jörg Kukies zum Staatssekretär durch Bundesfinanzminister Olaf Scholz fast auf den Tag genau 100 Jahre später in eine Reihe stellt – und dazu schreibt: „Der Kreis hat sich geschlossen.“
Fünf Seiten sind der Frage gewidmet, „wie der Neoliberalismus über die SPD kam“, drei dem Agieren der SPD im Fall Maaßen, zwei dem in der Diesel-Krise. Die Gewichtung stimmt nicht.
Lohnt sich trotzdem
Und dennoch lohnt sich Maurers Buch – nicht nur wegen ein paar Anekdoten aus seinem Politikerleben. Maurers Nachruf auf die SPD zeigt die Gedankenwelt vieler, die nach 1968 in die SPD strömten: von der Ablehnung des Godesberger Programms (in Godesberg habe die SPD „programmatisch ihren Frieden mit dem Kapital gemacht“, schreibt Maurer) bis hin zu einem romantischen Antikapitalismus ohne präzise Wirtschaftskonzepte.
Ulrich Maurer: Wars das? Ein Nachruf auf die SPD. VSA-Verlag, 14,80 Euro.
Franz Walter: Die SPD. Biographie einer Partei. Rowohlt, 16 Euro.
Die Seeheimer, also den rechten Flügel der SPD, greift Maurer an, weil sie in einem Papier behaupteten, „die gewinnorientierte Motivation der Unternehmer“ löse „schnellere Bereitschaft zu Revisionen“ aus, wenn der Markt versage. Sie diene damit mehr als jedes andere Modell zur gesamtgesellschaftlichen Bedürfnisbefriedigung. Dies sei „nicht anderes als die vollständige Kapitulationserklärung gegenüber dem kapitalistischen System“, schreibt Maurer. Es sind die Stellen, die ratlos machen: Soll in Maurers Sozialdemokratie wieder der Staat alltägliche Gebrauchsgüter wie Jeans oder Smartphones herstellen?
In Maurers Buch hat die Parteilinke immer Recht, die Parteirechte Unrecht. Aber nach 156 Seiten Lektüre lässt einen der Gedanke nicht los, dass die Agenda 2010-Befürworter auch deshalb so großen Einfluss in der SPD gewinnen konnten, weil die intellektuelle Substanz der Parteilinken zu dünn war. Heute kommen die in zwei Parteien organisierten Sozialdemokraten gemeinsam nicht einmal mehr auf 30 Prozent.
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