Kriminologe über Videoüberwachung: „Das ist das Risiko der freien Welt“
Gefordert wird mehr Videoüberwachung. Der Soziologe Nils Zurawski ist skeptisch – auch weil diese Technik langfristig gegen die Bürger verwendet werden könnte.
taz: Herr Zurawski, zwei Drittel der Deutschen sind nach dem Anschlag in Berlin für mehr Videoüberwachung im öffentlichen Raum. Versprechen sich die Leute zu Recht mehr Sicherheit?
Nils Zurawski: Nach solchen Ereignissen sind die Befragten immer begeistert von Videoüberwachung. Sie scheinen sich also etwas davon zu versprechen, aber was genau, das weiß kein Mensch, denn das wird nicht abgefragt. Vermutlich hat jeder seine eigene Vorstellung davon, wo was überwacht werden soll und was dann mit diesen Daten passiert.
Zumindest scheinen sie sich ja sicherer zu fühlen.
Man könnte meinen, dass angesichts der hohen Zustimmung auch das Sicherheitsgefühl von Menschen in Bereichen mit Videoüberwachung zunimmt. Das ist aber nicht der Fall, wenn Menschen zu ihrer gefühlten Sicherheit befragt wurden, trugen Kameras nicht wesentlich dazu bei. Ist ja auch klar: Videokameras verhindern keine Anschläge.
Aber vielleicht verhindern sie andere Arten von Kriminalität?
In bestimmten Zusammenhängen können Kameras sicher Kriminalität vorbeugen. Bei Einbruchsdiebstählen zum Beispiel, vielleicht bei Banküberfällen oder dem Abzocken vor Geldautomaten. Aber da schlagen die Täter eben nicht vor dem – videoüberwachten – Automaten zu, sondern an der nächsten Ecke, zumindest, wenn es keine totalen Anfänger sind.
48, arbeitet am Institut für Kriminologische Sozialforschung der Universität Hamburg. Seine Habilitationsschrift handelte von den Zusammenhängen zwischen Überwachung und Weltbild.
Verdrängung.
Genau. Die ist natürlich ein gutes Argument, um alles mit Kameras zu überwachen. Dann gäbe es keine Verdrängungseffekte mehr. Aber ich glaube nicht, dass irgendjemand da wirklich hinwill.
Wie wirken sich die Kameras auf unterschiedliche Tätergruppen aus?
Impulsive Taten, Taten im Affekt oder von stark alkoholisierten Menschen werden durch Kameras nicht verhindert. Daher geht auch die Debatte über Videoüberwachung zur Vorbeugung von Übergriffen an Silvester zum Teil am Ziel vorbei: Alkoholisierte Täter lassen sich von Kameras nicht stören.
Und inwieweit helfen Kameras bei der Aufklärung?
Wenn die Kameras gute Bilder liefern, sieht man zumindest, was passiert ist. Das kann Tathergänge in der Regel ganz gut sichtbar machen. Allerdings zeigen die vorhandenen Videos nach den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln, dass es zahlreiche Ausnahmen von der Regel gibt. Und ob Aufnahmen dazu beitragen – Stichwort Anschlag in Berlin –, dass so eine Tat tatsächlich in Gänze, ganz zu schweigen von den Hintermännern, aufgeklärt wird, wage ich zu bezweifeln. Dass wir so viel über Anis Amri wissen, liegt vor allem an den ganzen klassischen Ermittlungstätigkeiten, die im Vorfeld des Anschlags passiert sind. Und auch am Ende war es ja ironischerweise eine ganz normale Kontrolle, bei der der Täter aufgefallen ist.
Aber genau das ist ein häufiges Argument: Hätte er nicht einen Ausweis und Fingerabdrücke hinterlassen, würde ein unbekannter mutmaßlicher Terrorist durch Europa geistern.
Ja, dann ist das so. Das ist das Risiko der freien Welt. Das ist bitter, aber das ist der Preis, den wir zahlen, wenn wir unsere Art zu leben nicht von Terroristen einschränken lassen wollen. Aber ganz ehrlich: Das tun wir schon längst. Seit 9/11 haben die Überwachungstätigkeiten massiv zugenommen.
Was macht Videoüberwachung mit einer Gesellschaft?
Da muss ich selbstkritisch sein: Wir geben als Wissenschaft leider zu wenige Antworten auf diese Frage.
Und warum gibt es nicht mehr Forschung?
Weil diese Frage etwas sehr Technik-deterministisches hat. Als ob man einfach Technik in eine Gesellschaft gibt und – zack! – passiert etwas. Das ist Quatsch. Videoüberwachung gibt es, weil es bestimmte gesellschaftliche Probleme und Entwicklungen und Bedürfnisse gibt, und in diesem Kontext muss man das auch betrachten.
Bei Videoüberwachung geht es letztlich um eine Abwägung von Grundrechten. Das Recht, sich unbeobachtet in der Öffentlichkeit zu bewegen, und das Recht auf körperliche Unversehrtheit zum Beispiel. Wie soll jemand diese Abwägung treffen, ohne zu wissen, wie Videoüberwachung wirkt?
Ich finde es falsch, das als Abwägung zu sehen. Das stellt Freiheit gegen Sicherheit, und das sind zwei verschiedene Dinge, die natürlich Berührungspunkte haben, die man aber nicht gegeneinander aufrechnen kann.
Aber bei Videoüberwachung ist doch genau das der Fall.
Ja. Aber nur weil eine technische Lösung für nicht technische Probleme präsentiert wird. Und dazu kommt: Die Überwachung bleibt erhalten, auch wenn der Terror eines Tages weg ist. Niemand baut Kameras ab, weil irgendwo lange nichts mehr passiert ist. Im Gegenteil: Beim nächsten Mal kommen dann die Kameras mit automatischer Gesichtserkennung. Und danach die nächste technische Entwicklung.
Im Fall einer Frau, die in der U-Bahn eine Treppe hinuntergestoßen wurde, hat die Polizei sechs Wochen erfolglos ermittelt und erst mit Veröffentlichung der Bilder einen Verdächtigen gefunden. Müssen wir die Technik angesichts solcher Fälle neu bewerten?
Gut, dass jemand gefasst wurde. Da hat Videoüberwachung etwas gebracht. Aber sonst? Die Frau ist trotzdem die Treppe runtergefallen, muss in Behandlung, alles Mögliche. Was führt jemanden zu einer solchen Tat? Wie können wir es schaffen, diese Art von Gewalt aus der Gesellschaft zu bringen? Mit Videoüberwachung ist die Strategie: Andere Täter werden abgeschreckt, weil man einen aufgrund der Überwachung gefasst hat. Möglicherweise. Ohne Videoüberwachung ist die Strategie: Man fasst den Täter direkt.
Wenn Personal da ist. Oder Menschen mit Zivilcourage.
Aber genau da müssen wir hin. Videoüberwachung ist sehr repressiv, das muss man immer im Hinterkopf haben. Denn was wir nicht wissen: Was passiert außerhalb von Fahndungen mit diesen Bildern? Was passiert, wenn wir eines Tages keine nette, demokratische Regierung mehr haben, sondern eine rechte mit Totalitarismusfantasien? Was passieren kann, sehen wir gerade in der Türkei. Und was die Wirksamkeit angeht, schauen wir nach Großbritannien: Hier haben sie sowohl die meisten Kameras als auch eine der höchsten Kriminalitätsraten Europas.
Vielleicht ist die Dunkelziffer geringer?
Vielleicht. Aber der Chef der Londoner Polizei hat schon 2008 gesagt, dass sie nur 3 Prozent der Straftaten mithilfe der ganzen Kameras aufklären. Videoüberwachung löst keine Probleme. Das müssen wir wissen. Und dann überlegen, wie wir die Probleme lösen wollen, die wir haben.
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