Kriegsgegner in Russland: Widerstand aus Menschlichkeit
In Russland ist ein 17-Jähriger zu sechs Jahren Straflager verurteilt worden. Er hatte Molotowcocktails auf zwei Militärrekrutierungszentren geworfen.
Bis vor Kurzem wäre es für Tatiana Balazeikina undenkbar gewesen, öffentlich über Politik zu sprechen, geschweige denn über den Krieg in der Ukraine. „Wir dachten lange, Politik ist nichts für uns“, sagt die 45-jährige Russin, die mit ihrer Familie in Otradnoye nahe St. Petersburg wohnt. „Wir hatten andere Dinge im Kopf: unser Haus, unsere Arbeit, unsere Familie. Ich glaube, vielen Menschen in Russland geht es so.“
Es war ihr Sohn Yegor, der Zweifel an dem russischen Regime in ihr Haus trug. Nachdem sein Onkel an der Front in der Ukraine gestorben war, begann Yegor sich über den Krieg und die russische Propaganda bei unabhängigen Medien wie Meduza zu informieren. „Mein Sohn sagte zu uns, es sei nicht mehr die Zeit, sich herauszuhalten und keine politische Meinung zu haben.“ Yegor wurde zum überzeugten Kriegsgegner.
Tatiana Balazeikina sitzt an einem Morgen im April in ihrem Haus in Otradnoye vor dem Laptop, hinter ihr steht ein Ikea-Regal voller Hefte und Unterlagen. Sie trägt kurzes, graues Haar, eine ovale Hornbrille. Balazeikina spricht fließend Englisch, sie unterrichtet die Sprache in Russland.
Ihr Sohn Yegor ist inzwischen nicht mehr bei ihr. Er ist im Februar 2023 verhaftet worden, gerade einmal 16 Jahre alt war er da. Yegor hat damals in zwei Nächten selbst gebaute Molotowcocktails auf Militärrekrutierungszentren in Kirowsk und St. Petersburg geworfen.
Beim zweiten Mal, am 28. Februar 2023, erwischte ihn die Polizei. Im Gebäude des Militärs hielt sich zum Zeitpunkt des Anschlags niemand auf, nur ein Sicherheitsmann befand sich außerhalb des Zentrums. Balazeikin erklärte, er habe bis 22 Uhr gewartet, um sicherzustellen, dass keine Personen zu Schaden kommen.
Die Attacke scheiterte ohnehin, sein Brandsatz erzeugte nur einige Stichflammen. Bei beiden Anschlägen kamen weder Gebäude noch Personen zu Schaden.
„Ich habe kein faires Verfahren erwartet“
Yegor Balazeikin ist im November zu sechs Jahren Haft verurteilt worden, er sitzt nun in einer Strafkolonie ein. Mit nunmehr 17 Jahren zählt er zu den jüngsten politischen Gefangenen in Russland. Seit Mitte Mai führt ihn Russland zudem auf der Liste der Terroristen und Extremisten. „Er verliert damit grundlegende Bürgerrechte und wird auch dann noch Probleme bekommen, wenn er einmal freigelassen wird“, sagt seine Mutter.
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Laut Amnesty International werden Personen auf der Liste Finanzdienstleistungen und Sozialhilfe verwehrt, ohne dass ein Gerichtsbeschluss nötig ist. Ende Dezember 2023 umfasste die „Liste der Terroristen und Extremisten“ des russischen Finanzüberwachungsdiensts laut Amnesty 13.647 Personen, von denen 11.286 als „Terroristen“ bezeichnet wurden. 13 Prozent davon waren Frauen, 106 Personen unter 18 Jahre alt.
Insgesamt sind Militärrekrutierungszentren in Russland seit Beginn des russischen Angriffskrieges schon über zweihundert Mal Ziel von versuchten Brandanschlägen gewesen. Mehr als 40 Tatverdächtige wurden wie Yegor wegen Terrorismus beschuldigt.
In zweiter Instanz ist das Urteil gegen Yegor Anfang April bestätigt worden, doch Tatiana Balazeikina kämpft weiter. „Wir gehen nun in die nächsthöhere Instanz.“ Yegor wird dabei von der Anwältin Darya Koltsova vertreten. Balazeikina kann ihren Sohn zweimal im Monat besuchen, sie können mehrmals in der Woche telefonieren, sich Briefe schreiben.
Die taz hat – über seine Mutter – auch einige Fragen an Yegor gerichtet. In seinen Antworten wirkt er sehr abgeklärt und entschlossen: „Ich wollte mit meinen Aktionen kein Zeichen setzen, ich habe es nur für mich selbst getan. Ich wollte menschlich bleiben, ich will weiter in den Spiegel blicken können und nicht zu denen gehören, die den Krieg unterstützen.“ Das harte Urteil überrasche ihn nicht, „ich habe kein faires Verfahren erwartet.“ Zu konkreten politischen Fragen will er sich jetzt nicht mehr äußern, das sei in seiner aktuellen Situation zu gefährlich.
Vor dem Krieg eine unpolitische Familie
Yegor ist ein außergewöhnlicher Jugendlicher. Er interessierte sich früh für Geisteswissenschaften, insbesondere für Geschichte und Sozialwissenschaften. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung besucht er eine Schule, die ihn auf ein Studium vorbereiten sollte. In seiner Freizeit war Karate seine Lieblingsbeschäftigung, er hat in dieser Sportart zahlreiche Pokale nach Hause gebracht.
Seit der Kindheit leidet Yegor unter Autoimmunhepatitis, bei dieser Krankheit greift das Immunsystem die eigenen Leberzellen an. Im Gefängnis bekommt er laut seiner Mutter nur die medizinische Grundversorgung, aber nicht die nötigen Zusatzuntersuchungen, um den Verlauf der Krankheit zu überwachen.
Mitte Juni konnte Yegor in einem Krankenhaus untersucht werden. „Seine Werte waren nicht gut, seine Krankheit schreitet voran“, sagt seine Mutter. Wichtige Gerichtsunterlagen, die Yegor zugestellt werden sollten, seien auf dem Postweg verschollen. Dies wirke sich auch auf ihr Besuchsrecht aus – vorerst dürften sie ihn nun nicht mehr besuchen, sagt sie.
Weder Yegor noch seine Familie waren vor dem Angriffskrieg gegen die Ukraine politisch bewandert, sie zählten sogar noch bis zum Tod des Onkels eher zu den Putin-Unterstützer:innen. „Es ist unsere Schuld, dass wir uns nicht wirklich für Politik interessiert haben“, sagt Tatiana Balazeikina. „Wir wussten nur, dass es einen Krieg zwischen unserem Land und unserem Nachbarland gab. Das war alles. Wir wussten auch nichts von den Repressionen in Russland.“ Balazeikina hat sich inzwischen mit anderen betroffenen Familien von politischen Gefangenen vernetzt. Auch ihr Leben hat sich seit der Verhaftung ihres Sohns grundlegend gewandelt.
„Mach mit mir, was du willst, ich werde meine Meinung nicht ändern“
Nach Yegors Verhaftung sagten ihm die Polizisten, er solle bei den Ermittlungen nicht über den Krieg sprechen – so könne er freigesprochen werden. Yegor blieb bei seiner Meinung. Beamte des russischen Geheimdienstes FSB drohten ihm überdies, er würde in der Untersuchungshaftanstalt vergewaltigt und in eine psychiatrische Klinik gebracht werden.
Doch Yegor sagte: „Mach mit mir, was du willst, ich werde meine Meinung nicht ändern.“ So erzählen es zumindest seine Unterstützer:innen auf einem Telegram-Kanal. Gegenüber den Staatsanwälten gab er zum Tatmotiv zu Protokoll: „Ich bin mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine nicht einverstanden. Deshalb begann ich, mit Menschen in meiner Umgebung zu sprechen, um Informationen über das Büro für die Registrierung und Einberufung zum Militär zu sammeln. Ich erkannte, dass die Gespräche nutzlos waren, und beschloss, dass etwas getan werden musste, um die Situation zu ändern.“
Auch wenn Balazeikina sich kämpferisch gibt, weiß sie, wie es Kriegsgegner:innen in ihrem Land derzeit ergeht. „Es gibt keine Menschenrechtsorganisation, die in Russland zugelassen ist und sich um diese Fälle kümmern kann“, sagt sie und spielt vor allem auf das Verbot der NGO Memorial Ende 2021 an.
So ist es vor allem ein Satz, der ihre Situation umfassend beschreibt: „Wir warten auf die besseren Tage.“ Mutige Menschen wie ihr Sohn könnten dazu beitragen, dass diese Hoffnung etwas realistischer wird.
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