Kriegsdienstverweigerer in der Ukraine: 5.000 Euro für die Flucht
Für ukrainische Männer, die dem Kriegsdienst entfliehen wollen, gibt es illegale Wege aus dem Land. Doch die Regierung will die Lücken schließen.
Das öffnet den Markt für sogenannte „Schleichhändler“, wie sie in der Ukraine genannt werden: Nach Angaben der ukrainischen Behörden verdienten „Schleichhändler“ 500.000 Euro an 130 Männern, denen sie – nach geltender ukrainischer Gesetzeslage illegal – über die EU-Grenze verholfen. In Lwiw etwa soll ein ehemaliger Rechtsanwalt Wehrpflichtigen die Ausreise aus der Ukraine mit gefälschten Ausweisen ermöglicht haben, die sie als vermeintliche Mitglieder einer NGO auswiesen. Auch in Riwne im Nordwesten der Ukraine sollen zwei Männer Kriegsdienstverweigerer fiktiv als Fahrer für ein Unternehmen beschäftigt haben, das internationale Transporte in EU-Länder durchführt.
Nach Angaben einer jüngsten Recherche von Journalisten aus Lwiw haben mindestens 2.248 Männer im wehrpflichtigen Alter aus dieser westukrainischen Stadt das Land mit Genehmigung der regionalen Militärverwaltung über das Shlyakh-System verlassen und sind nicht zurückgekehrt. Die Journalisten der NGLmedia fanden heraus, dass 372 Organisationen Anträge auf Ausreise gestellt hatten. Die meisten sollen Organisationen sein, die alleine für diesen Zweck gegründet wurden – zwei davon hatten den Hauptsitz in dem Dorf Mykolajiw, in der Nähe von Lwiw, und sollen die Ausreise von 200 Männer organisiert haben. Ihre Erfolgsquote lag bei 90 Prozent. Für die wehrpflichtigen Männer kosteten diese Dienste zwischen 3.000 und 5.000 Euro pro Person.
Als diese Recherche im September veröffentlicht wurde, war die Empörung im Land groß. Denn viele Stiftungen hatten patriotisch klingende Namen – und viele Menschen in der Ukraine sehen die Deserteure und Kriegsdienstverweigerer sehr kritisch. Das Shlyakh-System taucht am häufigsten in Zusammenhang mit den Schleichhändlern auf. Bei der Recherche für diesen Text wurde der Autor in den sozialen Netzwerken kontaktiert: Eine Anzeige über Facebook lautete beispielsweise: „Das Shlyakh-System erlaubt jedem Bürger der Ukraine, das Land für 30 Tage zu verlassen. Wir werden Ihnen helfen, die Grenze innerhalb von 48 Stunden offiziell zu verlassen. Sie werden sich erholen und Ihre Familie sehen können.“
Ukrainische Behörden gehen gegen Werbung vor
Diese Werbung ist nach ukrainischen Gesetzen illegal, die Behörden gehen dagegen vor. Wohl auch, weil die Korruptionsbekämpfung eine der Hauptvoraussetzungen für eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine ist – und Präsident Selenski sich zuletzt auch bemühte, Anstrengungsbereitschaft zu demonstrieren, indem er etwa die Spitze des Verteidigungsministeriums und sämtliche Chefs der Rekrutierungszentren im Land austauschte.
Shlyakh, ukrainisch für Straße oder Weg, wurde noch vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine gegründet, um die Zusammenarbeit zwischen dem Staat und den Transportunternehmen zu erleichtern – somit konnten Lizenzen und Genehmigungen für Reisen ins Ausland leichter erlangt werden. Das System wurde dann im Jahr 2022 erweitert: Seitdem umfasst das System auch Freiwillige, die ins Ausland fahren, um humanitäre Hilfe für die ukrainische Armee zu liefern.
In seiner Abwehrschlacht gegen die russische Armee kann das ukrainische Militär ab sofort auch US-Kampfpanzer einsetzen. Das erste Kriegsgerät vom Typ Abrams sei in der Ukraine angekommen, teilte Präsident Wolodimir Selenski am Montag in Kiew mit. „Die Abrams sind schon in der Ukraine und bereiten sich darauf vor, unsere Brigaden zu verstärken“, schrieb Selenski auf Telegram. Das ukrainische Militär teilte außerdem mit, dass bei einem Angriff auf das Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte am Freitag der Kommandeur Viktor Sokolow getötet wurde. Dafür gab es von russischer Seite zunächst keine Bestätigung. (dpa)
Beim Shlyakh-System dürfen sich Freiwillige nicht länger als 30 Tage im Ausland aufhalten. Diese Regelung führte relativ schnell zu Missbrauch, um 30 Tage im Ausland Verwandte und Freunde besuchen zu können. Darüber hinaus ist das Shylakh-System ein Weg, um die Einziehung von Männern im wehrpflichtigen Alter zu umgehen. Das ukrainische Parlament, die Werchowna Rada, zählte bis zu 19.000 Männer, die bis Ende Juni das Shylakh-System benutzt hatten – das entspricht etwa vier Brigaden der ukrainischen Streitkräfte.
Nun hat die Regierung in Kyjiw beschlossen, die Gesetzgebung zu ändern. Der stellvertretende Minister für kommunale Entwicklung, Regionen und Infrastruktur, Serhiy Derkach, erklärte, dass die Behörden nun von den Freiwilligen eine spezifische Begründung für ihre Ausreise verlangen und beim Zoll prüfen werden, ob sie tatsächlich in der Vergangenheit bei ihrem Rückweg humanitäre Güter in die Ukraine eingeführt haben. Darüber hinaus sieht der neue Entwurf auch vor, dass nur Organisationen, die seit mindestens einigen Monaten als Wohltätigkeitsorganisationen registriert sind, ihre Fahrer ins Shlyakh-System aufnehmen können.
Aus dem Russischen Gemma Terés Arilla
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“