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Krieg in der UkraineRussische Raketen verwüsten Dnipro – Tote und Verletzte

Ein russischer Angriff auf die Stadt Dnipro fordert viele Tote und Verletzte. Der Bürgermeister spricht von einem nie dagewesenen Ausmaß an Zerstörung.

Fassungslosigkeit in Dnipro nach einem russischen Raketenangriff, Ukraine, 24. Juni 2025 Foto: Mykola Synelnykov/reuters

Dnipro taz | Die Telegram-Gruppe der ukrainischen Stadt Dnipro meldet am Dienstagvormittag um 10:57 Uhr Ortszeit eine Bedrohung von ballistischen Raketen aus dem russischen Rostow.

10:58 Raketen fliegen in unsere Region

10:58 Dnipro, Pavlohrad, bringt euch in Sicherheit!

11:00 Achtung, die Zwei-Wände-Regel rettet euch nicht!

11:00 Rakete auf Dnipro!

11:01 Explosionen.

11:01 So weit keine neuen Ziele. Wiederholte Einschläge möglich.

11:03 Rauch am Himmel nach Explosionen.

11:04 Wiederholung!

11:04 Dnipro – RAKETEN!

11:06 Verf*ck­te Scheiße. Wir warten auf offizielle Infos.

In den Stunden nach dem Angriff schwebt eine gigantische Rauchwolke über der Stadt.

Um 17:48 Uhr verkündet die Gruppe, dass der Bürgermeister von Dnipro Borys Filatow für Mittwoch Staatstrauer ausgerufen habe. Filatow sprach von einem „noch nie dagewesenen Ausmaß an Zerstörung.“ Bei den Raketenangriffen wurden 17 Menschen getötet und 170 verletzt – darunter auch Kinder.

Ein Brand brach aus, 50 Hochhäuser, Wohnhäuser und Bildungseinrichtungen wurden zerstört: Schulen, Kindergärten, eine Musikschule, eine Berufsschule, eine Kirche, eine Eishalle, ein Krankenhaus und ein Verwaltungsgebäude. Eine Rakete schlug in der Nähe des Passagierzuges Odessa–Saporischschja ein. In den sozialen Medien kursieren Bilder von blutgetränkten Sitzplätzen und zerborstenen Zugfenstern.

Verkohltes Metall

Um kurz vor 8 am Dienstagabend beginnt ein Nieselregen, der zu einem immer stärkeren Prasseln anwächst. Stunden nach dem Raketeneinschlag riechen die Straßen noch nach verkohltem Metall, kilometerweit stauen sich die Feuerwehrautos.

Anatolij Ilienko, 65 Jahre alt, steht mit seiner Frau und seinem Sohn auf einem Rasen eines Plattenbau-Innenhofs aus Sowjetzeiten, ein paar Schritte entfernt von der Hauptstraße „Allee der Freiheit“. Um sie herum erstreckt sich hier am Stadtrand eine riesige Industriezone. Ein Gaswerk verpestet die Luft.

Ilienko trägt ein T-Shirt im Military-Look und eine Stirnlampe. Damit kann er in dem dunklen Gebäude leuchten, das bis heute sein Zuhause war und jetzt keine Fensterscheiben mehr hat. Er hat eine leichte Alkoholfahne. In seiner rußgeschwärzten Hand hält er ein schwarzes Metallteil mit seltsam unregelmäßigen Zacken. „Ein Souvenir von den Russen!“, sagt er. „Kam in unsere Küche geflogen“. Er glaubt, es handele sich um ein Raketenteil.

Anatolij Ilienko, seine Frau Svitlana und ihr Sohn Wladislaw warten zusammen mit dutzenden anderen aus der Nachbarschaft in der Schlange vor einem blauen UNHCR-Zelt. Überall wuseln Ehrenamtliche und Po­li­zis­t:in­nen herum und wollen etwas tun.

Ohne Freude

Die Ein­woh­ne­r:in­nen füllen Formulare aus, um ihren Sachschaden zu dokumentieren und Materialien zur Reparatur zu erhalten: Klebebänder für beschädigte Dächer, Holzplatten, um die zerstörten Wohnhäuser zu verkleiden. Inmitten der Zerstörung plaudert man miteinander und trinkt Limonade. Wie bei einem Straßenfest, nur ohne Freude. Die Familie Ilienko wird heute Nacht bei der Tochter schlafen. Was dann kommt, wissen sie nicht.

Anatolij Ilienko, seine Frau Svitlana und ihr Sohn Vladislav Foto: Marina Klimchuk

Sie hatten Glück im Unglück. Als die Rakete einschlug, war das Ehepaar gerade beim Einkaufen. Der Sohn Wladislaw stand zu Hause am Fenster im vierten Stock und räumte das Zimmer auf. In der Warteschlange versucht er, seine Gefühle zu beschreiben, aber er schüttelt nur den Kopf.

Er habe die Druckwelle des Raketeneinschlags gespürt und sei in die Mitte des Raumes geschleudert worden, schildert er den Moment des Einschlags. Die Fensterscheiben seien zersprungen, der Himmel habe sich vor seinen Augen mit Rauch gefüllt. Er habe seinen Körper abgetastet und festgestellt, dass es ihm bis auf einen leichten Schmerz des Rückens gut gehe.

Als er das Zimmer verlassen wollte, konnte er die Tür nicht öffnen. Ein Schrank war umgefallen und versperrte ihm den Weg. Bis die Eltern heimkamen und ihn befreiten, war er fast eine Stunde lang im Zimmer gefangen. Dann sahen sie, wie einige ihrer Nachbarn aus dem Gebäude herausgetragen wurden. „Ja, Juri ist auf der Intensivstation“, wirft die Frau ein.

Durst nach Normalität

Selbst an diesem tragischen Dienstagabend im vierten Sommer der russischen Invasion dürstet Dnipro nach Normalität. Am Ufer des gleichnamigen Flusses wirbt ein Zirkus für seine Pinocchio-Performance. Alte Frauen mit bunten Kopftüchern preisen ihre Blumen und Kirschen an, Pärchen sitzen in Restaurants, schlürfen Austern und nippen an ihren Cocktails. Niemand weiß, wie lange all das noch weiter gehen wird. Alle sind erschöpft, gefangen in den Strömen ihrer Stadt und ihrer Zeit.

20 Autominuten von dem Zuhause der Ilienkos entfernt liegt das Krankenhaus Mechnikow. Ein lang gezogenes Gebäude mit neun Stockwerken und mehreren Blocks, gesäumt von Dutzenden Krankenwagen. Von der Front aus ist das Krankenhaus eines der nächstgelegenen. Tagein, tagaus kämpfen hier verwundete Soldaten um ihr Leben.

Auf der Intensivstation beendet Anatoli Jaroslawowitsch, ein Mann mit dunkelblauem Arztkittel und traurigen Augen, gerade seine Schicht. Bevor er von seinem Tag erzählt, setzt er in klassisch ukrainisch ironischer Manier an: „Unsere Freunde sind heute schwer damit beschäftigt, dass alle in dieser Stadt leiden.“ Die Freunde, das sind die Russen.

Chefarzt Anatoli Jaroslawowitsch

Jaroslawowitsch, Chefarzt auf der Station, führt in ein Vierbettzimmer und deutet auf die Patienten. Hier liegen einige der Schwerverletzten des Raketenangriffs. Sie wurden gerade erst notoperiert, ihre Gesichter sind entstellt. Einigen fehlen die Augen. Einer wurde eingeliefert und starb sofort.

Direkt in den OP

„Schweres Gehirmtrauma, Riss in den neuronalen Verknüpfungen“, sagt Jaroslawowitsch. „Und der hier“, er macht eine vage Handbewegung nach rechts, „der kam mit seinen Eingeweiden nach außen gekehrt hier an und direkt auf den OP-Tisch!“

Während die Stadt um ihre Toten trauert, ist es für Anatoli Jaroslawowitsch ein ganz gewöhnlicher Tag. Wenn es nicht Zi­li­vis­t:in­nen sind, die hergebracht werden, dann sind es Soldat:innen.

Am gleichen Abend sitzen 32 Staats- und Regierungschefs der Nato-Mitgliedstaaten im Ballsaal des Palais in Den Haag beisammen und speisen angeschmorten Thunfisch an Sauergurkenmousse mit mariniertem Gemüse, Schnittlauchcreme und knuspriger Zwiebel. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist dort. Er sitzt nicht neben Donald Trump.

In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch heulen in Dnipro um 1:01 Uhr wieder die Sirenen. „Achtung“, warnt eine automatisierte Stimme aus der Handy-App die Ukrainer:innen. „Suchen Sie den nächsten Schutzraum auf! Seien Sie nicht leichtsinnig! Ihr übermäßiges Vertrauen ist Ihre größte Schwäche!“

Am nächsten Morgen auf der Station: „Wir sind Minus zwei“, sagt Anatolij Jaroslavovitsch. Unter den Verstorbenen ist auch der mit dem Hirntrauma. Der mit den Innereien sei stabil, er wird am Leben bleiben. Ihm stehen noch viele Operationen bevor.

Die Berichterstattung wurde von Women on the Ground der International Women’s Media Foundation in Zusammenarbeit mit der Howard G. Buffett Foundation unterstützt

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9 Kommentare

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  • In einem Interview in futur II hier in der taz sagt RD Precht auf den Einwand: 'Na ja, die Atomraketen der Russen in Königsberg sind ein paar Flugminuten von Berlin entfernt. Das ist eine andere gefühlte Bedrohung als ein Klimakollaps. -

    Ja, für Sie vielleicht. Ich habe mich noch nie vor Russen gefürchtet.'



    Wieder, ohne jeden Beleg, wird in dem Interview behauptet, dass man angeblich nicht genug diplomatische Initiativen startete seitens 'des Westens'.



    In Anbetracht der Berichte aus der Ukraine über die brutale Kriegsführung Russlands, sowie den strategischen Aufmarsch an der Finnischen Grenze kann man über solche Aussagen der Sofa-Pazifisten und Untergangspropheten (Kampf gegen Klimakrise ist abgesagt nach seinem Dafürhalten) nur noch wundern.



    Ja, demokratische Debatten werden bei uns pluralistisch geführt, sicher. In Anbetracht der Tatsache, welche Opfer in der Ukraine erbracht werden und das Putin-Ruzzland in den besetzten Gebieten der Ukraine Ukrainisch-Unterricht untersagt (entgegen anderer Zusagen), ist es nur noch erbärmlich und zynisch. Putin lügt und er lügt immer und immer wieder. Davor kann man die Augen nicht verschließen.

  • Es ist zum Heulen.



    Was sagen eigentlich unsere Russlandversteher und Friedensfreunde?

    • @Carsten S.:

      Die werden wie so OFt schweigen.

    • @Carsten S.:

      Das können Sie z. B. in FuturZwei nachlesen, einfach ein bissel nach unten scrollen. Da schwadroniert Precht drauflos und sagt, dass er "keine Angst vor den Russen" hätte.

  • Wie kommt die Ukraine zur Umsetzung ihrer Ziele?



    Was ist der Plan hinter dem Versprechen, sie so lange wie möglich zu Unterstützen?



    Unterstützt man auch die 90.000 Wehrdienstverweigerer, die von den Rekrutierungseinheiten ergriffenen oder die sich im Untergrund versteckenden Wehrpflichtigen?



    Auch Sie gehören zu "die Ukraine".



    Mehr Waffen wird sicher nicht in ihrem Interesse sein.



    Zumindest erschließt sich das nicht logisch.



    Wo also geht die Hilfe hin und was bedeutet sie außerhalb des Narrativs?

    • @Mark Menke:

      Was glauben Sie, wie es in der Ukraine aussehen würde, wenn diese sich nicht verteidigen würde?

    • @Mark Menke:

      Auch Sie gehören zu "die Ukraine".

      Natürlich, und ich möchte niemandem einen Vorwurf machen der nicht kämpfen möchte/kann

      Knapp 900.000 möchten/müssen aber. Sie möchten aber auch unterstützt werden, weil sie auch uns vor russland verteidigen.

      Sie möchten ihre Leute vor Massaker wie in Butscha beschützen. Davor dass Moskau systematisch ihre Kinder entführt und in Russifizierungslager steckt.

      BND-Chef Bruno Kahl erklärte, Russland bereite sich personell und materiell auf eine Attacke gegen Nato-Staaten bis Ende des Jahrzehnts vor.



      Kahl betonte, Russland testet das Bündnis, möglicherweise über „kleine grüne Männchen“ im Baltikum oder begrenzte Angriffe – um zu prüfen, ob Artikel 5 noch gilt.



      Dabei stützt sich der BND auf nachrichtendienstliche Belege

    • @Mark Menke:

      Der Plan ist, dass Putin die Angriffe einstellt und seine Armee zurückzieht, möglichst wenig von den geraubten Gebieten einbehält und Estland, Lettland, Litauen und Moldau in Ruhe lässt. Ich glaube aber, das wissen Sie eigentlich selber.

  • Es ist doch sehr verwunderlich, dass die USA dem Aggressor Putin alles durchgehen lassen.

    Beim Iran und Israel wird Trump schon mal ausfällig. Bei Russland schweigt er beharrlich.