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Krieg in der UkraineDie Front ruft, immer weniger folgen

Die militärische Lage der Ukraine ist ernüchternd. Viele Soldaten verlassen unerlaubt ihre Einheiten – die Bereitschaft zu kämpfen sinkt.

Ein ukrainischer MIlitär begutachtet die Reste einer russischen Rakete in der Region Saporischschja Foto: reuters

Berlin taz | Die Äußerungen des scheidenden US-Verteidigungsministers Lloyd Austin zur militärischen Lage in der Ukraine richteten sich vor allem an den designierten Präsidenten Donald Trump, der am 20. Januar im Weißen Haus die Amtsgeschäfte übernehmen wird. Es herrsche die Meinung vor, dass Russland in der Ukraine die Oberhand hat.

Dennoch stehe der Kreml vor einer wachsenden Anzahl von Herausforderungen, die jeden Versuch, das Erreichte zu festigen, erschwerten. Sollte Moskau alles bekommen, was es wolle, werde das teuer, sagte er in einem Interview mit der US-Nachrichtenagentur Bloomberg News von Mitte dieser Woche. Gleichzeitig verwies er in diesem Zusammenhang darauf, dass die Ukraine ihre Fähigkeiten weiter ausbaue.

Ohne derartige Versuche Kyjiws in Abrede zu stellen, ist die Realität nach fast drei Jahres des russischen Angriffskrieges gegen den Nachbarn doch eher ernüchternd. Bei massiven russischen Angriffen mit Gleitbomben auf die südukrainische Region Saporischschja am Mittwochabend wurden elf Menschen getötet und über 100 verletzt – einige davon schwer.

Im Schneckentempo

Auch im Osten der Ukraine ist die Situation kritisch. Dort rücken russische Truppen unaufhaltsam vor – wenngleich im Schneckentempo und unter erheblichen Verlusten. Die Einnahme der strategisch wichtigen Stadt Pokrowsk in der Region Donezk scheint nur eine Frage der Zeit zu sein.

Auch die Stadt Kupjansk in der Region Charkiw steht unter wachsendem Druck. Angaben der dortigen Militärverwaltung zufolge verlaufe die Frontlinie nur noch zwei Kilometer von Kupjansk entfernt. Die Lage für die dort 900 verbliebenen Ein­woh­ne­r*in­nen sei extrem schwierig.

Gleichzeitig haben ukrainische Streitkräfte vor wenigen Tagen eine neue Offensive in der russischen Region Kursk gestartet, in die sie im vergangenen August einmarschiert waren, in der sie seitdem jedoch Teile bereits eroberten Territoriums wieder verloren hatten. Als einen Grund nennen Ex­per­t*in­nen den Umstand, dass Geländegewinne in Kursk zum jetzigen Zeitpunkt das Narrativ auf dem Schlachtfeld zugunsten der Ukraine beeinflussen könnten.

Eine Offensive Kyjiws in der Ostukraine wäre ein langsames, mühsames Unterfangen, wahrscheinlich mit begrenztem Erfolg und hohen Verlusten. Sie würde die ukrainische Verteidigung in der Region weiter schwächen, zitiert die Website von Radio Freies Europa David Silbey, Professor für Militärstudien an der US-Universität Cornell.

Andere Dimensionen

Doch in der Ukraine geht es schon längst um Probleme mit ganz anderen Dimensionen. Eins davon ist, dass immer mehr Soldaten dem ukrainischen Staat buchstäblich von der Fahne gehen. Diesen Umstand veranschaulicht das Beispiel der 155. mechanisierten Brigade „Anna von Kyjiw“, das ukrainische Medien unter den Stichworten „Skandal“ und „Spitze des Eisberges“ verhandeln.

Am Mittwoch wurde der Kommandeur einer Kompanie dieser Brigade in der Ukraine festgenommen. Ihm wird vorgeworfen, seinen Einsatzort unerlaubt verlassen und auch seinen Mitkämpfern befohlen zu haben, zu desertieren. Dass der Fall überhaupt öffentlich wurde, ist dem ukrainischen Kriegsjournalisten Juri Butusow zu verdanken, der im Dezember entsprechende Fakten auf seinem Webportal censor.net veröffentlicht hatte.

Besagte Brigade war im März 2024 gegründet worden, die Schirmherrschaft hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron übernommen, wie die Zeitung Le Monde berichtet. Im Paket enthalten war auch eine neunwöchige Ausbildung an französischem Kriegsgerät für 2.300 ukrainische Soldaten – laut Verteidigungsminister Sébastien Lecornu ein einzigartiges neues Programm“.

Rund 50 Soldaten zogen es noch in Frankreich vor, der Truppe den Rücken zu kehren. Von den Rückkehrern, denen rund weitere 2.300 Soldaten zugewiesen wurden, suchten insgesamt rund 1.700 Mann das Weite, was an dem Einsatzort gelegen haben könnte: mehreren Abschnitten im Gebiet Donezk, einem der tödlichsten Hotspots des Krieges.

Butusow berichtete von unzureichender militärischer Ausrüstung sowie mangelnder Kampferfahrung. Zudem seien die Mitglieder der Brigade größtenteils keine Freiwilligen gewesen, sondern gegen ihren Willen Mobilisierte. Dazu gekommen seien ein veritables Organisationschaos und intransparente Befehlsketten.

Kein Einzelfall

Die Brigade „Anna von Kyjiw“ ist kein Einzelfall. Die Zahl derer, die nicht mehr bereit sind, im Krieg gegen Russland ihr Leben zu riskieren, steigt. Der ukrainische Dienst der BBC berichtet, lauf offiziellen Angaben seien Ende Oktober 2024 mehr als 95.000 Strafverfahren wegen unbefugten Verlassens eines Dienstortes und Desertion anhängig gewesen. Aus dem Generalstab heißt es laut BBC, die realen Zahlen lägen bei 100.000 bis 150.000.

Der ukrainische fronterfahrene Politanalyst Gennadi Drusenko erhebt in diesem Zusammenhang schwere Vorwürfe gegen Regierung und Generalstab. Erstere sei realitätsfern, korrupt und unprofessionell, letzterer habe eine kleine sowjetische Armee aus größtenteils Leibeigenen geschaffen, aus der heraus der Weg nur in den Himmel, ein Krankenhaus oder ins Gefängnis führe. Ihr Land zu retten, liege zuallererst in der Verantwortung der Ukrainer*innen. Diese Aufgabe auf Kyjiws Verbündete abzuwälzen, sei kontraproduktiv, schreibt er auf dem Webportal focus.ua.

Am Donnerstag unterstützte das Parlament einen Antrag, der Desertierten eine Brücke zurück bauen soll. Danach wird die Frist für rückkehrwillige Militärangehörige, die ihre Einheit ohne Erlaubnis verlassen haben, bis zum 1. März 2025 verlängert. Sie werden nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen.

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22 Kommentare

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  • Verwundert nicht, wenn ganze mechanisierte Brigaden mangels Ausrüstung als Infateriebrigade kämpfen müssen. Dann sinkt halt die Moral.

    Im Grunde hätte Europa spätestens ab 01.03.2022 für entsprechenden nachhaltigen Nachschub sorgen müssen. Stattdessen hat man sich entschieden die Kosten zu maximieren – unabhängig vom Ausgang.

    • @metalhead86:

      Das hätte die Situation für die Ukraine am Ende auch nicht verbessert, sondern vermutlich eher noch zu einer größeren Eskalation geführt. Die einzige realistische Option für die Ukraine waren immer Verhandlungen.

      • @Alexander Schulz:

        Es hat schon etwas zynisches Verhandlungen die nur das Ziel hatten das Ende der Ukraine herbeizuführen als Chance für die Ukraine zu bezeichnen.

  • "Die Einnahme der strategisch wichtigen Stadt Pokrowsk in der Region Donezk scheint nur eine Frage der Zeit zu sein."

    Diese Befürchtung wird doch schon seit letztem Sommer an die Wand gemalt, um die nahende Niederlage der Ukraine herauf zu beschwören. Pokrowsk ist immernoch in der Hand der Ukraine.

  • "die Bereitschaft zu kämpfen sinkt"

    die Bereitschaft zu sterben sinkt.

  • taz-typischer Unwille gegenüber Uniformen oder schon bei reuters falsch etikettiert: Der gute Mann auf dem Foto ist Polizist und nicht Soldat

  • "Viele Soldaten verlassen unerlaubt ihre Einheiten – die Bereitschaft zu kämpfen sinkt."



    Wenn Soldaten/Bevölkerung nicht mehr wollen, ist ein Krieg im Grunde schon fast verloren. Jedenfalls in Nicht-Diktaturen. Bei Putin würden sich derartige Probleme weniger stark bemerkbar machen.

    • @Encantado:

      Das ist mir zu pessimistisch. Ein Sieg war realistisch betrachtet eigentlich nie möglich, aber nicht zu verlieren ist nach wie vorher eine realistische Möglichkeit

  • Leider scheint sich die erneute Kursk-Offensive für die Ukraine schon nach wenigen Tagen als Rohrkrepierer zu erwiesen - die Russen waren diesmal darauf vorbereitet.



    So kritisieren ukrainische Militärblogger, dass in der Kursk-Region die besten Eliteeinheiten gebunden sind, während die Russen im Osten so Stück für Stück vorrücken können.



    Möglicherweise geht es nur darum, bis zum 20. Januar durchzuhalten und in Kursk möglichst viel russisches Territorium als Faustpfand für Verhandlungen in der Hand zu behalten. Umgekehrt will Putin die Scharte auswetzen, bis dahin Fakten schaffen und die ukrainischen Erfolge vom letzten Sommer in ihr Gegenteil verkehren.



    Welch sinnlose Verschwendung von Menschenleben! Und ein Trauerspiel, dass mittlerweile alle Welt darauf zu warten scheint, dass ausgerechnet ein Donald Trump diesen schrecklichen Krieg beendet - vor seinem Wahlsieg in den USA hatten das noch alle als Maulheldentum belächelt.

    • @Abdurchdiemitte:

      Immer weniger Menschen in der Ukraine und im Westen möchten diesen Krieg fortführen. Der Zeitpunkt für Verhandlungen ist sicherlich nicht der beste, trotzdem sollte weiteres sinnloses Sterben verhindern werden. Die weit verbreitete Meinung, dass wenn die Ukraine nicht ihre berechtigten Maximalforderungen erreicht es sich sich um einen russischen Diktatfrieden handelt war und ist natürlich hinderlich bei der Suche nach einer Lösung.

      • @Alexander Schulz:

        Dass selbst Selenskyi mittlerweile keine Maximalforderungen mehr stellt, pfeifen die Spatzen schon längst von den Dächern - bei Putin hingegen Fehlanzeige.



        Sollte der Kreml inzwischen aber doch das eine oder andere zarte Friedenstäubchen gen Himmel steigen lassen, liegt das ganz sicher nicht an etwaigen neugewonnen Einsichten und Erkenntnissen des Wladimir Putin, sondern an der Angst vor dem außenpolitischen Ekklektismus eines Donald Trump. Der ist auch für den russischen Machthaber unberechenbar.

      • @Alexander Schulz:

        "Immer weniger Menschen in der Ukraine und im Westen möchten diesen Krieg fortführen."

        Was für ein Unsinn !!!



        -Niemand in der Ukraine oder im Westen hat diesen Krieg je gewollt oder wollte ihn nicht sofort beenden.

        Sie sollten wirklich weniger RT sehen...!

        • @Gerald Stolten:

          Kriegszustimmung oder -ablehnung empirisch zu messen, dürfte eine ziemlich komplizierte Angelegenheit sein, denn es hängt davon ab, wie das Untersuchungssetting, die Erhebungsinstrumente und die Fragestellungen angelegt sind. Somit können Sie quasi JEDES Ihnen genehme Ergebnis ermitteln.



          Deuten Sie beispielsweise die deutlich sinkenden Zustimmungswerte Selenskyis in der ukrainischen Bevölkerung von Kriegsbeginn bis heute zugleich als Indikator für zunehmende Kriegsmüdigkeit, wäre es evident zu behaupten, die Ukrainer wollten diesen Krieg nicht mehr.



          Das wäre allerdings nur EINE Interpretation, die die Tatsache unterschlägt, dass die Zustimmung für Selenskyis Politik aktuell immer noch bei 53% liegt (ich bin jetzt zu faul, um die Untersuchung zu googeln, aber das Prinzip dürfte klar sein).



          Aber auch sonst im Leben ist es komplizierter: wie sonst könnte ich als überzeugter Pazifist (in der Tradition Bertrand Russells) den Verteidigungskrieg der Ukraine gegen den russischen Aggressor gutheißen.



          Es gibt halt nicht nur Schwarz und Weiß, sondern viele Grautöne dazwischen.



          Und es rechtfertigt nicht, den Foristen @Alexander Schulz einen unkritischen Konsum von RT zu unterstellen.

        • @Gerald Stolten:

          Niemand in der Ukraine oder im Westen wollte den russischen Angriffskrieg! Zu behaupten, dass niemand für eine Fortführung des Krieges war oder is, damit die Ukraine ihre (unrealistischen) Ziele erreichen kann ist falsch und unsachlich. Diese Unsachlichkeit und Polemik ist übrigens einer der Gründe warum die jetzige Situation überhaupt entstehen könnte.

    • @Abdurchdiemitte:

      …die ukrainischen Erfolge vom letzten Sommer…

      Mir ist ehrlich gesagt nicht bekannt, welche Erfolge das sein sollten, ich denke damit ist der Vorstoss vom Sommer 2022 (Charkiw) gemeint, schon ein paar Jahre her, seitdem ist Rückzug angesagt

      • @Hans Dampf:

        Ich meinte die Kursk-Offensive von August/September 2024, die die Russen zunächst unvorbereitet traf und große Verunsicherung in den russischen Reihen hervorrief, weil sie die offene militärische Flanke Russlands aufzeigte und bewies, dass die Ukraine seinerzeit durchaus noch zu Offensivaktionen fähig war.



        Der militärstrategische Nutzen jedoch wird selbst von Ukrainern angezweifelt, da dort zu viele Kräfte gebunden sind, die zwar den Russen (und den dort eingesetzten Nordkoreaner) große Verluste zufügen, aber auch dazu führen, dass russische Truppen andernorts z.T. erhebliche Geländegewinne machen können.

  • Es ist sehr traurig und läuft wohl für Einzelne, ebenso wie für die Regierung und Bürgergemeinschaft, auf die Entscheidung kämpfen oder unterwerfen hinaus. Ich wünsche den Ukrainern, dass sie ihr Land behalten können.

    Ein wenig hoffe ich noch, dass Donald Trump etwas hilfreiches einfällt, was anderen nicht eingefallen ist. Egal was man von Donald Trump hält, einzigartige, wenn auch absurde Ideen hat er (Beispiele: Grönland, Panama-Kanal, Kanada). Vielleicht ist ja doch einmal eine gute Idee dabei.

    • @*Sabine*:

      Er will mehr Öl und Gas fördern und auch die Saudis dazubringen deutlich mehr Öl zu fördern und so den Weltmarktpreis senken auf ein Niveau bei dem Russland nicht mehr wettbewerbsfähig ist und so Russland wirtschaftlich in die Knie zwingen. Mit Sanktionen, Dronen-Angriffen und Problemen beim Export, könnte dies durchaus dazu führen das Russland dann relativ schnell kollabiert. Weil China und Indien verhandeln hart, das sind keine Freunde Russlands, die schenken Moskau nichts, wenn der globale Ölpreis fällt wollen die weitere Rabatte. Und dann muss Russland mit Verlust exportieren, oder die Quellen stilllegen. Das ist der Plan vom Team Trump.

    • @*Sabine*:

      „Kämpfen oder Unterwerfen“

      Genau solche Rhetorik hat uns an den heutigen Punkt gebracht, sollte sich mal Jeder an die eigene Nase fassen

    • @*Sabine*:

      „Ein wenig hoffe ich noch, dass Donald Trump etwas hilfreiches einfällt, was anderen nicht eingefallen ist.“



      Das ist es doch gerade! Wollen wir die Ukraine zum Spielball der Launen eines eklektischen Narzissten, eines Präsidenten-Darstellers machen? Bloß weil Europa ohne Ideen und Konzepte vor sich hin treibt und in der Ukraine-Frage uneins ist?



      Seit Frühjahr 2022 habe ich in der taz jenen widersprochen, die sagen, dass es alleine die Ukrainer seien, die über ihr Schicksal bestimmen. Jetzt ist es genau so gekommen! Ich wünschte mir, in diesem Fall hätte ich Unrecht gehabt.

      • @Abdurchdiemitte:

        Welchen Plan hatte den Europa? Wir hatten die Illusion, dass unsere Sanktionen "Russland ruinieren" würden. O-Ton unserer größten Außenministerin aller Zeiten. Und weil Russland nur mit 180.000 Mann angriff, dachten wir, die Ukrainer könnten gewinnen.



        Seit dies nicht mehr der Fall ist, haben wir keinen Plan mehr. Weil "Waffen liefern, Druck ausüben und gleichzeitig ernsthaft verhandeln" zu viel für uns ist.

        • @Kartöfellchen:

          Leider haben Sie vollkommen Recht. Theoretisch hätte es funktionieren können Russland mit ökonomischen Druck zum beenden zu zwingen. Jedoch war schnell deutlich, dass dieses nicht funktionieren würde.



          Einen Plan B war dann nicht mehr möglich, schließlich hat man vielfach großspurig verkündet, dass man mit Putin nicht verhandeln kann bzw darf.



          So hat sich Europa leider selbst schnell aller realistischen Handlungsmöglichkeiten beraubt.