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Krieg in der UkraineGeliebtes, zerstörtes Odessa

Russland greift Odessa mit Raketen und Drohnen an. Unsere Autorin hat eine besondere Beziehung zu der Stadt.

Die Odessiten sind stark und rau, das Meer hat sie widerstandsfähig gemacht Foto: Viacheslav Onyshchenko/imago

D ieser Tage denke ich viel an meine Eltern. Wie die beiden, frisch verheiratet, blutjung, mit Kisten voller Obst und Gemüse in den frühen Morgenstunden aufbrachen Richtung Schwarzes Meer, Odessa, um dort auf dem Basar ihre Waren anzubieten.

Am Schwarzen Meer harrten sie außerdem Anfang der 90er Jahre für einen Moment aus, während in meinem Geburtsort, dem heutigen Gebiet Transnistrien, Krieg herrschte. Nach Odessa unternahmen meine Eltern ihren ersten gemeinsamen Urlaub – ohne mich – und meiner Mutter brach das Herz, so erzählte sie es einmal, mich einige Tage zurückzulassen.

Gerade ist es mein Herz, das bricht. Es schmerzt mich, mein geliebtes Odessa zerstört zu sehen. Odessa ist mir auf einer Gefühls­ebene näher als die Stadt in Bayern, in der ich aufgewachsen bin. Während Schulkameraden Urlaub am Mittelmeer machten, verbrachte ich meine Sommer am Schwarzen Meer. Ich kenne Odessas Straßen, seinen Geruch nach modrigem Beton und Akazien, kenne die Sonnenuntergänge, die Senioren, die im Sommer mit ihren Plastiktütchen aus den Außenrajons an den Stadtstrand pilgern; ich weiß, dass man vorsichtig sein muss und das Meerwasser niemals schlucken darf, weil es unsere verwöhnten Mägen krank macht.

Russland entgrenzt seinen Krieg weiter, greift Odessa seit über zwei Wochen massiv mit Raketen und Drohnen an. Am Schwarzen Meer, so heißt es von vor Ort, hoffen die Soldaten auf mehr moderne Flugabwehr. Jede weitere russische Bombe im Hafen treibt die Hungersnot in jenen Ländern voran, die auf Getreideexporte aus der Ukraine angewiesen sind. Orte, die einst Schutzräume waren, sind längst keine mehr; Russland zerstört bewusst historische Bauten, heilige Stätten der orthodoxen Kirche wie die Verklärungskathedrale. Ein paar Meter von dieser entfernt hat mich mein Freund vor zwei Jahren fotografiert. Ich mit Straßenkatze Nummer 54.

Viel verloren, immer wieder aufgelebt

Damals, im Sommer 2021, lag ich am Strand von Odessa und las „Die Fünf“ von Vladimir Jabotinsky, den Odessa-Roman schlechthin. Jabotinsky erzählt darin von einer jüdischen, assimilierten Familie Anfang des 20. Jahrhunderts und ihren fünf Kindern: Marussja, Marko, Lika, Serjosha und Torik. Der Autor, selbst Odessit, beschreibt den Untergang der jüdischen Welt, der Vielvölkermetropole. Mit großer Verwunderung verzeichnet der Ich-Erzähler in Jabotinskys Roman, ein Journalist, wie der „Alltag in unserer Stadt, der vor Kurzem so heiter und sorglos gewesen war“, in eine „Massentragödie“ umschlagen konnte. Odessa, es bebt, bald blutet es. So wie heute wieder.

Die Stadt am Schwarzen Meer musste schon viel erleben, hat sich dabei aber wehrhaft gezeigt. Odessa war immer wieder Austragungsort kriegerischer Auseinandersetzungen, ertrug Bomben, verlor Menschen: Allein unter der deutsch-rumänischen Besatzung 1941 wurden Kommunisten und Juden unterdrückt, verfolgt, in umliegende Konzentrationslager der Region Transnistrien gebracht und dort ermordet. Kaum jemand überlebte. Bei einem Massaker verbrannten allein 22.000 Juden bei lebendigem Leibe in der Stadt.

Obwohl Odessa in seiner Geschichte schon so viel verloren hat, lebte es wieder und wieder auf. Die Odessiten sind stark und rau, das Meer hat sie widerstandsfähig gemacht. Sie werden die Russen überleben, Odessa wird wieder blühen. Daran muss ich glauben.

Jabotinsky beendet seinen Roman mit den Worten: „Es war eine komische Stadt; aber auch Lachen ist Zärtlichkeit. Doch jenes Odessa gibt es vermutlich nicht mehr, und ich brauche es nicht zu bedauern, dass ich nicht mehr dorthin gelangen werde.“

Ich hingegen trauere, bis Odessas Zärtlichkeit nicht mehr von dem ohrenbetäubenden Geräusch der Raketen heimgesucht wird.

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Erica Zingher
Autorin und Kolumnistin
Beschäftigt sich mit Antisemitismus, jüdischem Leben, postsowjetischer Migration sowie Osteuropa und Israel. Kolumnistin der "Grauzone" bei tazzwei. Beobachtet antidemokratische Bewegungen beim Verein democ. Axel-Springer-Preis für jungen Journalismus 2021, Kategorie Silber. Freie Podcasterin und Moderatorin.
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4 Kommentare

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  • Erinnerung auch an Piotr Leschchenko den Sänger aus den 30er Jahren: Serdtse = Herzchen. Meister des "russischen Tango" mit viel Charme.



    Neu aufgelegt von Re-Oriente in den 90er Jahren 2 CDs.

  • Liebe Erika Zingher, das New Orleans der Ukraine (so in etwa stelle ich mir Odessa vor) ist auch fuer mich ein Sehnsuchtsort. Ich hoffe, dass ich es - nach dem Krieg und nicht unter russischer Herrschaft - einmal besuchen kann...

  • mein Traum war es immer, mal nach Odessa zu reisen. Jetzt ist es zerstört. Dafür hasse ich Putin.

  • Habe mir grade mal Bilder von Odessa angeschaut aus der Zeit vor Putins Überfall auf die Ukraine.

    Wunderschöne Stadt, wunderschön am Merr gelegen.

    Kann Ihre Trauer sehr gut nachempfinden, Frau Zingher.

    Kleiner Trost: Putin hat so viel mieses Karma angehäuft, dass dies reichen wird bis sich die Sonne in einen Roten Riesen verwandelt hat.

    Da kann man selbst für einen Putin Mitleid empfinden.