Krieg in der Ukraine: Wie geht's weiter?

Vier Wochen Krieg und fünf Szenarien bezüglich eines möglichen weiteren Verlaufs: Regimewechsel in Moskau, Kapitulation in Kiew?

Soldat vor zerstörtem Militärfahrzeug

Ein ukrainischer Soldat an einem zerstörten russischen Militärfahrzeug, Charkiw 24. März Foto: Efrem Lukatsky/ap

„Der Krieg ist das Gebiet der Ungewißheit“, heißt es bei Carl von Clausewitz. Das gilt in diesen Tagen auch in der Ukraine. An vielen Fronten wird gekämpft, unzählige Menschen starben, Millionen Menschen fliehen, gleichzeitig wird immer wieder verhandelt und Russland und die Nato tauschen Warnungen aus. Aber wie könnte dieser Krieg weitergehen?

Ein Regimewechsel in Russland

Könnte Wladimir Putin an der Heimatfront stürzen – und eine neue russische Regierung anschließend den Krieg beenden? Es gibt mehrere Berichte, die auf Spannungen in Putins Machtmaschine hindeuten. Zwei ranghohe Offiziere des Geheimdienstes FSB wurden unter Hausarrest gestellt, der stellvertretende Chef der mächtigen Nationalgarde, Roman Gawrilow, wurde seiner Aufgaben enthoben. Außerdem wird über den Verbleib von Verteidigungsminister Sergei Schoigu spekuliert, der seit zwei Wochen nicht mehr öffentlich aufgetreten ist.

Russland-Expertin Sabine Fischer vom Berliner Thinktank Stiftung Wissenschaft und Politik warnt aber davor, dies überzuinterpretieren: „Das kann der Versuch sein, Sündenböcke aufzubauen. Anzeichen für wirkliche Risse im System Putin, in der Machtvertikalen und in den Eliten sehe ich im Moment nicht. Dafür ist es noch zu früh.“

Der Druck auf das System sei durch die harten Sanktionen und die militärischen Misserfolge stark gewachsen, zugleich habe der Druck auf die Gesellschaft durch Zensur, harte Repressionen und die Abschottung nach außen extrem zugenommen. „Im Moment sieht es so aus, als hielte sich das die Waage. Und wir müssen davon ausgehen, dass das Regime diese Balance noch eine ganze Weile halten kann“, sagt Fischer.

So schwierig Meinungsumfragen in autoritären Systemen sind, geht sie doch davon aus, dass die gemessene Zustimmung für das Regime bisher belastbar ist. „In einer Umfrage eines regierungsnahen Instituts ging es um die Unterstützung für die Politik von Wladimir Putin und das Vertrauen in ihn. Beide Werte sind seit Beginn des Krieges sogar um zehn Prozent gestiegen.“ Das sei ein Konsolidierungseffekt, wie er für eine Gesellschaft in einer Kriegssituation zunächst relativ normal sei. „Diese Zustimmung ist aber auf keinen Fall mit der nationalen Begeisterung im März 2014 nach der Annexion der Krim vergleichbar.“

Die Sanktionen zeigen im Alltag der russischen Bevölkerung mittlerweile Wirkung. Die Preise steigen, westliche Konsumgüter sind nicht mehr zu bekommen, die unterbrochenen Lieferketten und der Rückzug vieler internationaler Firmen legen bereits die Produktion in einzelnen Wirtschaftsbereichen lahm. Bestimmte Regionen und Städte werden von der folgenden Massenarbeitslosigkeit hart getroffen werden. „Das Problem ist aber, dass es hier konfligierende Zeithorizonte gibt“, sagt Fischer. „Wir haben zum einen den Angriffskrieg, wo alles sehr schnell abläuft. Zum anderen die Sanktionen, die langsamer wirken. Sie werden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit innenpolitisch auswirken, aber wohl nicht in einem Zeitraum, der für die Ukraine militärisch relevant ist.“

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo.

Eine Kapitulaiton der Ukraine

Von Beginn an hat der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski klargemacht, dass Kapitulation für ihn keine Option ist. Und mit den bisherigen Erfolgen ihres Widerstands hat die Ukrai­ne selbst jene Experten überrascht, die ihr militärisch einiges zugetraut hatten. Die hohe Motivation ihrer Truppen, gute Kenntnisse der Kampfgebiete und Waffenlieferungen aus dem Westen haben der Ukraine in den vergangenen Tagen teils sogar erfolgreiche Gegenoffensiven ermöglicht. Am Freitagnachmittag kündigte das russische Militär überraschend an, sich militärisch künftig auf den Donbass zu konzentrieren. Was auch immer von dieser Ankündigung zu halten ist: Eine totale Niederlage und Kapitulation der Ukraine erscheint im Moment wenig wahrscheinlich.

Aber was, falls es doch anders kommt? Eine Kapitulation würde de facto das Ende der ukrainischen Eigenstaatlichkeit bedeuten. Der Kreml würde in Kiew eine Moskau-treue Ma­rio­nettenregierung installieren und versuchen, mit einer Art Militärdiktatur das Land zu regieren. Aus von Russland bereits besetzten Orten in der Ostukraine gibt es Berichte, dass russische Soldaten mit Listen herumgehen und Einzelne verhaften.

Dass Russland aber dauerhaft die gesamte Ukraine militärisch unter Kontrolle behalten kann, gilt als ausgeschlossen. Dafür bräuchte es mehr Soldaten, als die russische Armee aufbringen könnte, ohne die Verteidigung des eigenen Landes völlig zu vernachlässigen. Deshalb wäre ein mögliches Szenario nach einer Kapitulation das Aufteilen der Ukraine in einen Ostteil, der von Moskau beherrscht wird, und eine Rumpf-Ukraine im Westen. Frieden herrschte dann vielleicht aber immer noch nicht: Gut möglich, dass aufständische Ukrainer in besetzten Gebieten als Partisanen weiterkämpfen würden.

Erfolgreiche Friedensverhandlungen

Die meisten Beobachter sind sich einig, dass die momentanen Gespräche zwischen Russland und der Ukraine von russischer Seite noch nicht ernsthaft geführt werden. „Es bräuchte dafür einen Waffenstillstand, der gleichzeitig den Erhalt der Ukraine als unabhängigen Staat gewährleistet“, sagt Sabine Fischer von der Stiftung Wissenschaft und Politik. „Das setzt aber eine grundsätzliche Veränderung der russischen Verhandlungsposition voraus. Und dafür bräuchte es auf russischer Seite die Einsicht, dass man den Krieg nicht gewinnen kann. Das ist ein sehr schwer zu erreichendes Ziel.“

Ein zentraler Punkt ist die Frage: Wie soll man Wladimir Putin jemals wieder glauben, dass er sich an Vereinbarungen hält? Mit dem Überfall auf die Ukraine hat er zahlreiche internationale Abkommen gebrochen, in denen sich Russland verpflichtet hatte, die Eigenstaatlichkeit anderer Staaten und explizit auch der Ukraine zu achten. Von den mündlichen Versprechen, keinen Angriff zu planen, ganz zu schweigen.

Die ukrainische Seite hat in den vergangen Tagen mehrmals signalisiert, dass sie bereit ist, über eine Neutralität zu sprechen. Aber was heißt Neutralität? Die Ukraine würde vielleicht auf eine Nato-Mitgliedschaft verzichten, fordert dafür aber Sicherheitsgarantien, also de facto militärischen Beistand aus dem Ausland im Fall eines erneuten russischen Angriffs.

Als Länder, die dafür in Frage kommen, wurden aus ukrainischen Kreisen die USA, Großbritannien und die Türkei genannt. Offen ist aber, ob diese Nato-Länder die Garantien abgeben würden – und ob so ein Modell für Russland akzeptabel wäre. Zudem geht es auch um territoriale Fragen. Ist Kiew bereit, Gebiete abzugeben? Womit würde sich Russland zufriedengeben? Theoretisch sind hier viele Modelle denkbar, praktisch hängt vieles vom weiteren Kriegsverlauf und der Wirkung der westlichen Sanktionen ab.

Das Modell Syrien

So bitter es ist: Die meisten Experten gehen davon aus, dass ein lang anhaltender Krieg, in dem keine Seite eindeutig die Oberhand gewinnt, das wahrscheinlichste Szenario für die nächsten Wochen und Monate ist. Das würde auch einen Terrorkrieg gegen die Zivilbevölkerung bedeuten, wie man es in Mariupol gesehen hat – und wie man es aus der russischen Kriegsführung in Tschetschenien und Syrien kennt: Die Einnahme umkämpfter Großstädte ist aufwendig, laut Militärexperten brauchen Angreifer dafür rund sechsmal so viele Soldaten wie die Verteidiger. Die russische Taktik zielt deshalb darauf ab, einen Teil der Bevölkerung fliehen zu lassen, alle verbliebenen Personen zu Kriegsgegnern zu erklären und die Städte dann schlicht zu zerstören.

Zu größeren Geländegewinnen ist die russische Armee derzeit aufgrund hoher Verluste an Soldaten und Material offenbar nicht in der Lage. Schon vor der Ankündigung vom Freitag konzentrierte man sich zuletzt auf den Versuch, im Osten Teile der ukrainischen Armee einzukreisen. Möglicherweise fressen sich die Kämpfe auf längere Zeit entlang der jetzigen Fronten fest.

Der Militäranalytiker Gustav Gressel vom Thinktank European Council on Foreign Relations betont, dass der russische Stillstand momentan eher eine „operative Pause“ sei. „Das ist noch nicht der große Wendepunkt.“ Er erwartet, dass Russland in den nächsten Wochen neue Soldaten und Einheiten in die Ukraine bringen wird. Ein wichtiges Datum ist der 1. April, an dem für viele Wehrpflichtige ihr Dienst endet. Viele könnten sich – aus freien Stücken oder dazu gedrängt – dann länger verpflichten. Als Berufssoldaten könnten sie anschließend im Ausland in den Krieg geschickt werden.

Nach einem Bericht des Wall Street Journal sind die USA und ihre Nato-Partner auch von den Erfolgen der ukrainischen Armee überrascht: Der längerfristige Plan war, sie bei einem Partisanenkrieg nach der Besetzung des Landes zu unterstützen. Nun hat man Probleme, schnell genug Material und Munition für eine Armee bereitzustellen, die einen konventionellen Krieg an mehreren Fronten führt.

Eine weitere Eskalation

Joe Biden hat Russland in dieser Woche mehrmals davor gewarnt, Chemiewaffen einzusetzen – das wäre eine weitere Eskalation des Krieges. Die Nato kündigte für diesen Fall „schwerwiegende Folgen“ an, ohne diese genauer auszuführen. Theoretisch ist ein sehr breites Spektrum an Reaktionen denkbar, von weiter verschärften Sanktionen bis hin zu einem militärischen Eingreifen. Einen solchen Schritt schließt der Westen bisher zwar einigermaßen geschlossen aus, in einer neuen Lage könnte sich aber eine neue Dynamik entwickeln.

Obwohl international geächtet, wurden Chemiewaffen etwa in Syrien vom Assad-Regime eingesetzt, um den Willen einer aufständischen Bevölkerung zu brechen. In einer dicht bewohnten Stadt freigesetzt, können chemische Kampfstoffe eine große Anzahl Menschen qualvoll töten – es ist eine Waffe, die auf reinen Terror setzt. Russland hat dem Assad-Regime dabei politisch immer den Rücken frei gehalten und bei den Vereinten Nationen mehrmals gegen weitreichendere Untersuchungen von UN-Inspektoren gestimmt.

Eine andere Form der Eskalation wäre der Einsatz einer taktischen Atomwaffe durch Russland. Das sind Bomben, deren Sprengkraft und Wirkungskreis geringer ist als bei den großen, strategischen Atomwaffen. Aber auch ihr Einsatz führt zu schwersten Zerstörungen und dem Freisetzen großer Mengen von Radioaktivität.

Eine solche Waffe könnte entweder direkt in der Ukraine oder zum Beispiel über der Ostsee eingesetzt werden, um die Nato vor einem weiteren Eingreifen abzuschrecken. Eine russische Militärdoktrin soll sich auf das Konzept des „Eskalierens, um zu deeskalieren“, stützen. Wenn Russland in einem Krieg bedroht werde, sei es legitim, mit atomaren Waffen zu eskalieren, um die Auseinandersetzung zu beenden.

Laut New York Times arbeitet im Weißen Haus eine Gruppe von Sicherheitsexperten daran, sofortige Antworten vorzubereiten, sollte Russland mit Chemie- oder Atomwaffen eskalieren.

Der Russland-Experte Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik betont aber auch: „Putin ist kein Selbstmörder. Er will selber überleben.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.