Krieg in der Ukraine: Die Leere von Kiew
Kaum Brot und Medikamente, dafür überall Schlangen und Nächte in Kellern und Bunkern – Eindrücke aus der Millionenmetropole im Ausnahmezustand.
Вы также можете прочитать этот текст на русском языке.
So hätte die neue Woche in der Millionenstadt im Zentrum Europas auch an diesem Montag beginnen können. Hätte. Wenn nicht der Krieg wäre, der an diesem Montag vor fünf Tagen begann.
Gerade hetzt niemand irgendwohin. Die großen Straßen sind leer, und die öffentlichen Verkehrsmittel werden jetzt vom Militär genutzt, das in der Nacht einen weiteren Angriff russischer Truppen auf die ukrainische Hauptstadt abgewehrt hat.
Aus den Metroeingängen kommen die Menschen, die wieder eine Nacht auf den Bahnsteigen der Stationen verbracht haben, um sich dort von der Bombardierung der Stadt zu schützen. Die meisten Geschäfte sind geschlossen, in den Cafés und Imbissen wird kein Kaffee mehr verkauft.
Jagd auf Öl, Konserven und – mit etwas Glück – Gemüse
Ein bisschen lebhafter geht es nur an einigen wenigen Supermärkten zu, in denen es noch Lebensmittel gibt. Die Wartenden stehen in Hunderte Meter langen Schlangen an. Die größte Nachfrage besteht aktuell nach Brot und Trinkwasser
„Ich gehe auf die Jagd“, sagt eine Frau, die sich gerade angestellt hat, in ihr Telefon. Die Supermarktregale sind ziemlich leer. Die Auswahl für die „Jagd“ ist klein. Kaufen kann man noch Sonnenblumenöl, Konserven, mit Glück etwas Gemüse, außerdem vielleicht noch ein paar Milch- und Fertigprodukte. Keine Chancen gibt es mehr auf Fleisch, Mehl, Getreideprodukte und Nudeln.
Andrei, 36, aus Kiew auf Facebook
In einem der Supermärkte steht nur eine Schlange bei den Backwaren. In den Regalen liegen weder Brot noch Brötchen. Doch die Menschen warten darauf, dass der Bäcker mit dem Brot kommt, das er gerade aus dem Backofen gezogen hat.
Die Ukraine ist zurzeit vermutlich das einzige Land, in dem man die Coronapandemie vergessen hat. Die Testzentren arbeiten nur noch eingeschränkt, und nur wenige Menschen lassen sich jetzt noch impfen. Man macht sich nicht mehr die Mühe, an Masken zu denken, wenn man schnell in den Luftschutzbunker läuft, in dem die Menschen dann dicht an dicht sitzen, damit so viele wie möglich dort Platz finden.
Schmerzmittel und Verbandsmaterial gehen aus
„Was für Masken? Hier stirbt man eher am ‚russischen Virus‘“, bemerkt eine der Frauen ironisch, die sich mit ihrem Kind darum bemüht, in einen Zug nach Lemberg zu kommen – weg von Kiew, so weit wie möglich. Auch all die Menschen, die gerade in Notunterkünften übernachten, interessiert das Coronavirus nicht. Als Notunterkünfte dienen die Bahnsteige und Waggons der Kiewer Metro, Tiefgaragen und die Keller großer Wohnblöcke.
Auch an den Apotheken sieht man zurzeit lange Schlangen. Die Menschen versuchen vor allem Erste-Hilfe-Ausstattung zu bekommen: Bandagen, Antiseptika und Beruhigungsmittel. Aber all das gibt es derzeit nicht mehr. „Schmerzmittel, Verbandsstoffe und Kopfschmerztabletten sind nicht verfügbar und es ist unklar, wann es sie wieder geben wird“, verkündet der Apotheker streng, er seufzt. Doch eine Frau will sich damit nicht zufriedengeben. „Sagen Sie, haben Sie Weißdorn?“, erkundigt sie sich nach einer Tinktur, die manchmal auch anstelle von Alkohol verwendet wird.
Viele Kiewer haben auf ihren Telefonen jetzt eine App der Kiewer Stadtverwaltung installiert, die vor bevorstehenden Luftangriffen warnt. Tatjana ist gerade in einem Geschäft, als eine Nachricht auf ihrem Handy angezeigt wird. Schnell läuft sie zur Kasse, um die Lebensmittel zu bezahlen, die sie gerade noch bekommen hat. Jetzt möchte sie zurück in den Luftschutzbunker. „Ich muss mich beeilen. Butter hab ich keine mehr bekommen, aber die hole ich dann eben morgen“, sagt das Mädchen kurz angebunden. Für die Zeit zwischen 17 und 23 Uhr gibt es eine Warnung vor einem Raketenangriff, die Alarmsirenen sind zu hören. Für viele Kiewer ist es nun schon die vierte Nacht in Folge im Bunker.
Nicht in jedem Wohnhaus sind die Keller so groß, dass viele Menschen hineinpassen oder gar die Nacht dort verbringen können. Doch die Nachbarn helfen sich gegenseitig. Sie tragen Möbel, auf denen man sitzen oder liegen kann, hinunter und bringen Woll- und Bettdecken mit. Diejenigen, die sich trotz allem entschließen, in ihren Wohnungen zu bleiben, legen Matratzen in die Hausflure. Oder in die Badezimmer, wo es keine Fenster gibt und wo es im Fall von Raketeneinschlägen etwas sicherer ist.
Bei Einbruch der Dunkelheit schalten die Menschen kein Licht mehr in ihren Wohnungen an, sie benutzen Taschenlampen oder Kerzen. So versuchen sie zu vermeiden, dass Raketen und Bomben auf ihre Häuser fallen.
Menschen stehen Schlange, um ihre Stadt zu verteidigen
„Ich habe mich furchtbar erschrocken, als ich bei völliger Dunkelheit durchs Fenster schaute und sah, dass auf dem Dach des Nachbarhauses jemand mit einer Taschenlampe herumläuft“, erzählt Olesja. „Dann habe ich kapiert, dass die Nachbarn prüfen, ob Saboteure dort Markierungen angebracht haben, die später als Ziel für Luftangriffe dienen könnten“, erklärt sie.
Tatsächlich wurden in verschiedenen ukrainischen Städten auf vielen Häusern solche Markierungen gefunden. Die Regierung hat die Leute gebeten, sie zu übermalen oder mit Sand abzudecken. Ungeachtet der schwierigen Situation ist der Kampfgeist der Ukrainer ungebrochen. Nicht nur Freunde und Verwandte helfen einander, sondern auch völlig fremde Menschen. Sie teilen Informationen, zum Beispiel darüber, wo man gerade Lebensmittel bekommt, und in welchem Automaten es noch Bargeld gibt.
„Alle haben gedacht, dass wir gespalten werden, in eine proeuropäische und eine prorussische Hälfte. Aber dank Russland sind wir nun so einig wie nie zuvor! Die Menschen aus der West- und der Ostukraine halten schon den fünften Tag in Folge gemeinsam der größten Armee der Welt stand. Einfache, unbewaffnete Menschen halten Panzer auf und vertreiben die Okkupanten sogar in den Städten, die traditionell als prorussisch gelten. Wir werden gemeinsam siegen!“, schrieb der 36-jährige Andrei, der aus Charkiw stammt und jetzt in Kiew lebt, auf seiner Facebook-Seite. Solche Aussagen hört man von Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft derzeit überall.
„Haben Sie gesehen, wie uns die ganze zivilisierte Welt unterstützt? Wir können in diesem Krieg einfach nicht verlieren!“, sagt ein alter Mann lächelnd, und erklärt dann stolz, dass sein Sohn und sein Enkel sich den Territorialverteidigern von Kiew angeschlossen haben. „Die Russen werden Kiew niemals einnehmen. Wir kämpfen nicht nur um unser Leben, sondern auch um unsere nationale Existenz. Wir werden bis zum letzten Atemzug für unser Land und die Zukunft unseres Staates kämpfen“, fügt er hinzu. Nach den Worten des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ist gerade die Einnahme von Kiew das Hauptziel des Kremls.
Die Menschen stehen hier bereits Schlange, um sich der Territorialverteidigung der Hauptstadt anzuschließen. Es gibt so viele Freiwillige, dass einige von ihnen bereits abgelehnt werden.
„Ich habe hier zwei Stunden angestanden, um mich registrieren zu lassen, und dann hat man mir gesagt, dass es keine Plätze mehr gibt“, sagt Vitali mit Bedauern in der Stimme. Eigentlich wollte er das Stadtviertel verteidigen, in dem er selbst lebt. „Stellen Sie sich das mal vor! Ich habe ein Auto und eine Uniform, und sie haben mir gesagt, dass sie mich in ein paar Tagen anrufen werden, wenn wieder Plätze frei sind.“
Hoffnung auf die Europäische Union
Am fünften Tag des russischen Krieges gegen die Ukraine hat die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärt, dass Brüssel die Ukraine in der Europäischen Union sieht. Viele der Ukrainer haben diese Nachricht mit großer Freude vernommen. „Wir haben das verdient. Wir verteidigen hier nicht nur uns selbst, sondern ganz Europa. Die Ukraine ist wirklich das erste Land, das sich im wahrsten Sinne des Wortes das Recht auf Mitgliedschaft in der EU erkämpft“, meint etwa die Kiewerin Olga.
Ungeachtet der Tatsache, dass bislang keinerlei konkrete Beitrittsfristen genannt wurden, glaubt man in Kiew an die Botschaft aus Brüssel. Am Ende des fünften Tages der russischen Invasion aber geriet die lang erwartete Nachricht dann doch in den Hintergrund. Denn der Beschuss der großen ukrainischen Städte nimmt zu und die Zahl der zivilen Opfer steigt mit jedem Tag.
Die Journalistin Anastasia Magasowa war Teilnehmerin des Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.
Aus dem Russischen von Gaby Coldewey.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel