Krieg in der Ukraine: Der Mann bleibt
Die Literaturwissenschaftlerin Olena ist eine von etwa 30.000 Geflüchteten aus der Ukraine, die bisher in der Slowakei angekommen sind.
E s ist 16.30 Uhr am Sonntag, als ein schwarzer Volvo-SUV langsam an den Grenzpolizisten vorbeirollt, vorbei an den Hunderten Wartenden, Helfer:innen, an den TV-Kameras, den Essensständen, in Vyšné Nemecké, dem größten Grenzübergang zwischen der Ukraine und der Slowakei. Am Steuer des Volvo sitzt Julia, bis vergangenen Mittwoch Management-Assistentin in Kiew, auf dem Rücksitz Olena, 28, eine Literaturwissenschaftlerin aus Kiew, und ihr Sohn Mark, 1 Jahr alt. Seit Tagen sind die beiden unterwegs, kennengelernt haben sie sich erst zehn Stunden zuvor. Julia fährt bis zur Kreuzung, fragt eine junge Soldatin, wo sie parken kann. Dann bringt sie den schweren Wagen zum Stehen, steigt aus und schaut sich mit glasigen Augen um.
Rund 30.000 Menschen sind bis zum Montagmorgen aus der Ukraine in die Slowakei gekommen, die Hälfte davon über Vyšné Nemecké. Aus ganz Europa stehen hier Menschen und warten auf die Flüchtenden, die nach Stunden und Tagen des Wartens meist zu Fuß, nur mit Rollkoffern, Rucksäcken und Kinderwägen herüber kommen. Es ist kalt, aber sonnig, Hubschrauber starten und landen, Polizei und Militär haben einen Checkpoint an der Zufahrtsstraße errichtet, Feuerwehr, die Kirche, Hilfsorganisationen haben Stände aufgebaut.
Julias Eltern leben im Osten der Ukraine – dort, wo die russischen Angriffe begonnen haben. Sie wollte sie mitnehmen, aber die Eltern lehnten es ab, ihr Haus zu verlassen. Julias Bruder hat sie auf der tagelangen Fahrt begleitet, kurz vor der Grenze ist er ausgestiegen. Männer dürfen die Ukraine nicht mehr verlassen. Jetzt steht sie allein da und schaut zu, wie Olena, die Mitfahrerin, das Kinderspielzeug vom Rücksitz zusammenpackt, während ihr Sohn mit wackeligen Schritten vor dem Auspuff hin und her läuft.
Julia schaut die Straße hinab, zu den schneebedeckten Gipfel der Tatra, die in den anthrazitfarbenen Himmel ragen. Hinter dem Gebirgskamm liegt Polen, in Warschau hat sie Familie. 500 Kilometer sind es noch bis dorthin. „Ich war schon oft da, aber noch nie mit dem Auto, ich bin immer geflogen“, sagt sie. „Muss man hier eigentlich Maut bezahlen?“ Sie hält eine Decke mit beiden Armen vor der Brust, umklammert wie ein Baby. Obwohl sie seit Tagen unterwegs ist, will sie gleich weiter. „Das ist besser für mich.“ Dann dreht sie sich zur Seite und fängt an zu weinen.
Olena öffnet den Kofferraum, holt einen großen schwarzen Koffer heraus, stellt ihn neben dem Kinderwagen auf den Boden. Die beiden Frauen stoßen ihre Fäuste aneinander, umarmen sich, wortlos, dann steigt Julia wieder ins Auto und fährt los.
„Ohne sie hätte ich es nicht geschafft“, sagt Olena. Rund 1.000 Fußgänger:innen stehen auf der anderen Seite der Grenze, wohl ebenso viele Autos, die Wartezeit beträgt über zehn Stunden. Mit ihrem großen Koffer, den vielen Taschen und dem schreienden Kleinkind hätte Olena nicht so lange in der Kälte stehen können, sagt sie. „Ich hätte wahrscheinlich mein Gepäck zurücklassen müssen.“
Schon vor drei Wochen habe sie den Koffer gepackt. „Alle haben gesagt, du bist verrückt.“ Aber sie habe viele Nachrichten gelesen, und wollte vorbereitet sein. Vor zehn Tagen hat sie dann den blauen biometrischen Pass für das Kind abgeholt. Doch selbst als sie am Donnerstagmorgen in ihrer wer Wohnung neben ihrem Mann aufwachte, weil Explosionen zu hören waren, sagte der: „Das kann nicht sein.“
Olena berichtet, wie sie aufstand, früh um sechs, von Geldautomat zu Geldautomat lief, um noch Bares abzuheben – ohne Erfolg. „Die Schlangen waren überall zu lang.“ Immerhin funktioniert ihre Bankkarte noch. „Ich bin dann zum Supermarkt, gleich um sieben, aber der war schon so überfüllt, dass Wachleute davor standen und man warten musste, bis man einzeln hineingelassen wurde.“ Olena kaufte Essen für ihren Sohn. „Ich dachte, wir müssen vielleicht einige Tage im Haus bleiben,“ sagte sie. Dass sie den schwarzen, fertig gepackten Koffer wirklich brauchen würde, glaubte sie an diesem Morgen noch immer nicht.
Olena, 28, Literaturwissenschaftlerin aus Kiew
Doch bis zum Nachmittag wurden die Nachrichten immer schlechter. Am frühen Nachmittag dann war ihre Angst vor den Ereignissen der kommenden Nacht so groß, dass sie und ihr Mann die Sachen ins Auto luden und losfuhren, nach Netischyn, 400 Kilometer westlich. 8 Stunden dauerte das. „Wir hatten Glück. Andere, die später losgefahren sind, waren 20 Stunden dorthin unterwegs.“ Zu jener Zeit durften Männer die Ukraine noch verlassen. Die Familie hätten gemeinsam fliehen können.
Olenas Eltern leben in Netischyn, arbeiten in dem dortigen Atomkraftwerk. Die Familie wollte dort bleiben, die Ereignisse abwarten. Doch was Olena las, war für sie Grund zu höchster Sorge. Und in der Zwischenzeit hatte die ukrainische Regierung sich für eine Generalmobilmachung entschieden, das heißt, dass Männer zwischen 18 und 60 Jahren das Land nicht mehr verlassen dürfen. Sie stiegen wieder ins Auto. 500 Kilometer waren es bis weit nach Uschhorod, an der Grenze zur Slowakei. 48 Stunden dauerte die Fahrt.
Limonade für die Ankömmlinge
„Manchmal konnte Mark etwas schlafen. Aber es war sehr schwierig,“ sagt Olena. Kurz vor der Grenze hat die ukrainische Armee einen Checkpoint aufgebaut. Männer werden nicht durchgelassen. Sie warten dort auf eine Mitfahrgelegenheit für Olena und das Kind und treffen schließlich Julia, die an der Stelle ihren Bruder zurücklassen muss. Während Olena davon erzählt, weint ihr Kind. „Er vermisst den Vater“, sagt Olena. „Er weint so, seit wir uns getrennt haben.“
Ihr Mann ist nun bei seiner Mutter, die lebt in der Region Karpatien, ganz im Westen des Landes. Sie hofft, dass er als Freiwilliger irgendwo helfen kann, aber nicht zum Kämpfen eingezogen wird. „Er war nie bei der Armee, er ist kein Soldat, er ist Buchhalter“, sagt sie.
Seit 11 Jahren sind die beiden ein Paar, sie lernten sich kennen, als Olena Literaturwissenschaft in Luzk, im Nordwesten der Ukraine studierte. Vor sechs Jahren heirateten sie, zogen gemeinsam nach Kiew. Olena arbeitete dort für eine Zeitung, im April 2020 wurde ihr Kind geboren, seither ist sie in Elternzeit. Danach will sie als freiberufliche Social-Media-Managerin arbeiten. Und nach Prag würde sie gern, wenn Mark etwas größer ist.
Etwa weiter steht Fernando neben einem silbernen Jeep mit offener Heckklappe am Straßenrand. Schon zum dritten Mal hat er den Kofferraum vollgeladen mit Dosen voller Limonade, Kartoffelchips, Keksen, Babywindeln, Feuchttüchern. Jetzt, am vierten Tag des Krieges, steht er im Jogginganzug und mit Baseballmütze da und sagt „Ukraine?“ zu jedem, der vorbeikommt. Wenn die Passanten nicken, deutet er auf den Kofferraum: „Food?“
Er lebt in Tibava, einige Kilometer weiter westlich, hat dort eine Autowaschanlage, aber die ist heute geschlossen und am Sonnabend war sie es auch schon. „Wir stehen den ganzen Tag hier“, sagt er und zeigt auf seinen achtjährigen Sohn, der stumm daneben steht und die Szene beobachtet. „Man muss doch irgendwas tun.“
Ein paar Meter weiter hat auch Otto sein Auto geparkt und einen langen Tisch davor aufgestellt. Daran sitzen zwei junge Frauen und ein Mann. Alle arbeiten in der über 500 Kilometer entfernten Hauptstadt Bratislava beim größten slowakischen Mobilfunkanbieter. Ihr Wochenende verbringen sie freiwillig hier und verteilen kostenlose SIM-Karten. Auf dem Tisch vor ihnen klebt ein Schild: „Wir haben großes Mitgefühl für ihre schwierige Situation und wollen Ihnen helfen, damit sie mit ihren Lieben in Kontakt bleiben können.“
Slowak:innen fassungslos über Putin
Die Flüchtlinge müssen einen Ausweis vorzeigen, die Helfer:innen tragen die Namen und Adressen mit Kugelschreibern in lange Listen ein, dann reichen sie dann kleine Briefchen mit den Karten herüber. „10 Gigabyte Datenguthaben, gültig erst mal bis März“, sagt Otto.
Gegenüber gibt es einen Stand, der Unterkünfte vermittelt. „Massenhaft“ Plätze hätten sie, sagt Alizbeta, eine junge Frau mit brauner Cordweste, die hinter dem Tresen sitzt. Erst am Vortag haben sie den Stand hier aufgebaut. „Alles selbstgemacht“, sagt sie. Junge Ukrainer, die auf ihre Verwandten warten, übersetzen. Alte Leute hier aus der Gegend, Hotelbesitzer aus anderen Teilen des Landes hätten sich gemeldet. Freiwillige stehen Schlange, um die Ankommenden zu den Quartieren zu fahren. „Man muss doch etwas tun“, sagt auch Alizbeta.
Die Slowak:innen sind fassungslos über das, was jenseits der Grenze geschieht, und viele hier leiten dieses Gefühl hier um in praktische Hilfe.
„Niemand hat damit gerechnet, dass Putin das tun wird“, sagt Fernando, der Autowaschanlagen-Besitzer, als wieder ein junges Pärchen an seinem Auto vorbeiläuft.
„Ukrainian?“
Die beiden bleiben stehen.
„Food?“.
„Nein, wir sind selber zum helfen hier“, sagt der junge Mann auf Englisch und die zwei gehen weiter.
Olena über die Generalmobilmachung Kiews
Das ist vielleicht einer der wichtigsten Umstände, die diesen Krieg und diese Fluchtsituation so außergewöhnlich machen: Jene, die hier helfen, und jene, denen geholfen werden soll, sind kaum voneinander zu unterscheiden. „Das ist wirklich emotional für mich, weil ich sehe, wie Europäer mit blauen Augen und blonden Haaren und Kinder täglich von Putins Raketen getötet werden“ – diesen Satz hatte der frühere stellvertretende ukrainische Generalstaatsanwalt David Sakvarelidze bei einem Interview mit dem Sender BBC gesagt.
Mehr Identifikation als mit Syrer:innen
Zu Recht wurde dies als rassistisch, als eine schlimme Abwertung des Leids Millionen anderer, nichtweißer Kriegsopfer auf der Welt kritisiert. Und dennoch macht es einen Unterschied dafür, wie mit den Ankommenden in Europa umgegangen wird: Es bricht das eingeübte Wahrnehmungsschema von Flüchtlingen in Europa, wenn jene, die hier ausgezehrt, mit Tränen in den Augen, Plastiktüten in der Hand und Decken um den Hals, über die Grenze laufen, nicht anders aussehen, als die Menschen, die sie erwarten, sondern genauso.
Ihr Schmerz ist hier für viele hier kein äußerer, die Identifikation mit ihrem Leid ist direkt, unmittelbar. Vor den Taliban, vor Assad in Syrien, vor den Dschihadisten im Sahel hat hier, in Zentraleuropa, niemand Angst. Vor Putin schon.
Am Vorabend hatte der slowakische Verteidigungsminister Jaroslav Naď gesagt, sein Land sei bereit, „unbegrenzt“ Flüchtlinge aus der Ukraine aufzunehmen. „Das ist Krieg, und wir begegnen unserem ukrainischen Brudervolk, mit dem wir nie Probleme hatten, menschlich und verantwortungsvoll. Wenn Hunderttausende kommen, dann kümmern wir uns eben um Hunderttausende.“ Staatspräsidentin Zuzana Čaputová sagte am Samstag, die Ukraine „kämpft auch für uns und verdient sich dafür ein klares Aufnahmesignal in die EU“
Die Slowakei gehört zur Visegrád-Gruppe, jenem Viererblock osteuropäischer Staaten, die sich innerhalb der EU stets für eine äußerst restriktive Flüchtlingspolitik eingesetzt haben. Alle vier sind nun ganz vorn mit dabei, die ukrainischen Flüchtlinge zu versorgen. Von Abwehr gibt es keine Spur mehr. In Polen, wo noch vor Wochen Iraker*innen und Kurd*innen mit voller Absicht dem Kältetod im Wald überlassen wurden, können Ukrainer*innen sogar schon vor ihrer Ankunft auf einer Webseite eine der Unterkünfte reservieren, die Privatleute dort massenhaft zur Verfügung stellen. Nach ihrer Einreise können sie sich direkt dorthin begeben – kostenlose Nutzung der Bahn inklusive.
So ist es nicht nur ein ehemaliger ukrainischer Chefankläger, der das Leid hierarchisiert, sondern es sind die europäischen Gesellschaften insgesamt. Während Fernando neben seinen Jeep steht und den Ankommenden Limo und Chips anbietet, sitzt in Brüssel der Rat der europäischen Innenminister zusammen. Seit Jahren scheitert das Gremium daran, sich über eine gemeinsamen Umgang mit Flüchtlingen in der Europäischen Union zu verständigen. Aber diese Uneinigkeit ist nun auf einmal passé. Am Sonntag beschließen sie einstimmig mal eben so einen Mechanismus, damit Geflüchtete aus der Ukraine kein Asylverfahren durchlaufen müssen, sondern gleichsam automatisch einen Schutzstatus für bis zu drei Jahre erhalten. „Das ist eine starke Antwort Europas auf das furchtbare Leid, das Putin mit seinem verbrecherischen Angriffskrieg verursacht,“ sagt Deutschlands Innenministerin Nancy Faeser (SPD).
Schlecht für sie. Gut für die Ukraine?
Wohl wahr. Die Rechtsgrundlage dafür ist die so genannte „Massenzustroms-Richtlinie“ der EU. In anderen Zeiten hätte schon der Name Rechte und Konservative vor Wut überschäumen lassen. Jetzt wird akzeptiert, dass vielleicht schon zur Wochenmitte die Zahl von 1,3 Millionen Flüchtlingen, die 2015/2016 nach Europa gekommen waren, überschritten werden könnte.
Am Abend sitzen Olena und Mark in einem Restaurant in der Nähe der Grenze, sie isst Pfannkuchen und füttert den Sohn mit Haferbrei. Die Nachricht von den anberaumten Friedensgesprächen macht die Runde. Gibt ihr das Hoffnung? Olena denkt nach. „Ich weiß nicht. Er hat auch die Atomraketen in Alarmbereitschaft versetzt“, sagt sie. „Was soll man da glauben?“
Nach dem Essen stellt sie Ihr Handy vor das Kind auf den Tisch. Es lacht. Auf dem Bildschirm zu sehen ist ein Video von ihm selbst, lachend, wie er von einem jungen Mann mit braunen Haaren in einer kleinen Neubauwohnung mit blauen Wänden durch die Luft gewirbelt wird. „Das ist Juri, mein Mann“, sagt sie. „Das Video haben wir am Donnerstagmorgen aufgenommen. Bevor wir losgefahren sind.“
Dass Präsident Selenski den Männern die Ausreise verboten hat, findet sie richtig, trotz allem. „Es ist so traurig für uns. Aber es ist gut für die Ukraine. Irgendwer muss das Land verteidigen.“
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