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Krieg in ÄthiopienNobelpreisträger kämpft selbst

Äthiopiens Ministerpräsident Abiy Ahmed soll die Hauptstadt verlassen haben und an die Kriegsfront gegen die Tigray-Rebellen gereist sein.

1.200 neue ­Rekruten für Äthiopiens Armee bei ihrer Verabschiedungsfeier in Addis Abeba am Mittwoch Foto: Amanuel Sileshi/afp

Berlin taz | Nach mehreren Wochen internationaler Reisediplomatie, um eine Feuerpause und Verhandlungen zwischen Äthiopiens Regierung und den Tigray-Rebellen der TPLF (Tigray-Volksbefreiungsfront) samt ihren Verbündeten herbeizuführen, stehen die Zeichen in Äthiopien wieder auf Sturm. Wie die Regierung in der Hauptstadt Addis Abeba am Mittwoch bestätigte, befindet sich Ministerpräsident Abiy Ahmed nicht mehr in der Hauptstadt, sondern an der Kriegsfront. Abiy „steht seit gestern der Streitkräfteführung an der Front zur Verfügung“, sagte Regierungssprecher Legesse Tulu. Außenminister Demeke Mekonnen übernimmt in seiner Funktion als Vizepremier die laufenden Regierungsgeschäfte.

Dass Abiy Ahmed an die Front gegen die „Terroristen“ geht, hatte er selbst bereits am Montagabend angekündigt,. Am Dienstag kursierten Fotos von ihm in Militäruniform. Patriotische äthiopische Kreise verglichen den Friedensnobelpreisträger 2019 umgehend mit Julius Caesar, Alexander dem Großen und früheren äthiopischen Kaisern. Verschiedene Prominente sollen zugesagt haben, seinem Beispiel zu folgen.

Die Rebellen stehen der Regierung propagandistisch nicht nach. Während die Regierungsseite Fotos von Abiy Ahmed an der Front verbreitet, veröffentlichte die TPLF Aufnahmen von Tausenden Kriegsgefangenen, die in Reih und Glied auf einem offenen Feld sitzen, und erinnerte damit an ihre militärische Überlegenheit. Sie ist nach eigenen Angaben „weniger als 136 Meilen“ von Abiy Ahmeds Regierungssitz entfernt, also knapp 200 Kilometer von Addis Abeba.

Unabhängige Beobachter meldeten in den vergangenen Tagen Kämpfe nordöstlich von Debre Sina, dem geografisch höchstgelegenen Ort entlang der Straße, die von Tigrays Hauptstadt Mekelle 800 Kilometer nach Süden bis Addis Abeba führt. Ein TPLF-Durchbruch hier wäre von erheblicher strategischer Bedeutung.

Feldzug geht schneller voran als Vermittlungen

Jedes Lager scheint vom eigenen bevor­stehenden Sieg überzeugt zu sein

US-Beauftragter Jeffrey Feltman

Abiy Ahmeds Reise an die Front bedeutet zunächst, dass er nicht mehr für politische Gespräche in Addis Abeba zur Verfügung steht. Die Bemühungen der Sonderbeauftragten von USA und Afrikanischer Union, zumindest eine Feuerpause auszuhandeln, erleiden damit zumindest vorerst einen erheblichen Rückschlag.

Die Tigray-Rebellen lehnten zuletzt ein Ende ihres Vormarsches ab unter dem Hinweis, dass im von regierungstreuen Milizen kontrollierten Westen Tigrays Massaker im Gange seien. Äthiopiens Regierung hat ein Nachgeben gegenüber der TPLF immer ausgeschlossen.

Der US-Sonderbeauftragte Jeffrey Feltman erklärte am Dienstag in Washington nach seiner Rückkehr aus Addis Abeba, es habe zwar „beginnende Fortschritte“ in seinen Vermittlungsbemühungen gegeben, aber „die alarmierenden Entwicklungen im Feld kommen schneller voran als diese fragilen Fortschritte“ und „jedes Lager scheint vom eigenen unmittelbar bevorstehenden Sieg überzeugt zu sein“.

In Reaktion auf die neue Entwicklung riefen Frankreich und Deutschland am Dienstagabend ihre Staatsbürger in Äthiopien zum sofortigen Verlassen des Landes auf, am Mittwoch auch Großbritannien. UN-Vertretungen in der äthiopischen Hauptstadt, wo unter anderem die UN-Wirtschaftskommission für Afrika ihren Sitz hat, wollen bis Donnerstag sämtliche Familienangehörige ihres internationalen Personals ausfliegen.

Diese Meldungen ärgern Äthiopiens Regierung: Ausländische Botschaften wollten psychologischen Druck ausüben, aber das Volk solle sich auf das Überleben konzentrieren, sagte der Regierungssprecher. Am Mittwoch wurden vier der sechs Diplomaten der irischen Botschaft aus Äthiopien ausgewiesen.

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5 Kommentare

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  • Es wird stets das Bild eines ,,David gegen Goliath" ,,Gut gegen Böse"produziert. In dieser Medienlandschaft wird ausschließlich Dr. Aby Ahmed dämonisiert und die TPLF als Opfer dargestellt. Dieses Narativ erzeugt eine enorme moralische Dimemsion. Kriege werden im Kopf und Herzen gewonnen. Schon Eisenhower schrieb jeder Dollar der für Propaganda und Desinformation ausgegeben wird ist soviel Wert wie 5 Dollar für die Verteidigung. Die TPLF hat sich das Gefallen der Botschaften, Länder und Medienlandschaft mit Blutgeld erkauft über 30 Jahre erkauft. Sie ist der wahre Goliath!

    • @Dr. Blackpanther :

      Zumindest 1 Äthiopier, den ich kenne, hat keine Lust für einen inneräthiopischen Machtkampf in den Krieg zu ziehen. Aufgrund der Erfahrungen der Vergangenheit ist die Abiy-Regierung insgesamt beliebter als die Tigray-Leute. Z B bei den Somaliern. Aber trotzdem sieht es nicht so aus, dass die Somalier dafür in den Krieg ziehen würden. Dafür sind die Widersprüche viel zu groß. Es gibt dort auch eine Splittergruppe, Ogaden Liberation Front. Wobei nicht klar ist, was die wollen? Die äthiopische Armee und das sieht man jetzt, das war in großem Umfang die Tigray-Armee, hat zumindest Al Shabaab von Äthiopien fern gehalten. Abiy hat 2 große Fehler gemacht: Er hat vor allen Amharen in wichtige Posten geholt und die Oromos u.a. nicht genügend berücksichtigt. Zweitens hat er die Tigray-Armee grob unterschätzt. Das dürfte ihm als Armee-Insider nicht passieren. Jetzt steht ihm das Wasser bis zum Hals. Und die Tigray-Armee lässt ihre eigenen Leute verhungern. Statt einen Korridor in den Sudan oder nach Djibouti zu schaffen, haben sie die Obsession "Addis Ababa". Nach Mille und Richtung Djibouti haben sie es nicht geschafft, da sie ihre Hauptkräfte Richtung Addis schicken. Ihre Bevölkerung in West-Tigray, das früher einmal zur amharischen Einflusszone gehörte, haben sie von Anfang an aufgegeben.

      • @Gabriel Renoir:

        Zitat aus Artikel: "TPLF ...erinnerte damit an ihre militärische Überlegenheit". Die Tigray-Armee hat ihre eigenen Leute aufgegeben, in West-Tigray komplett, im Rest überwiegend, denn um eine Versorgung kümmern sie sich nicht. Mit einem Vorstoß Richtung Addis A. wird ihre Frontlinie immer länger, was sich womöglich schon in der Einnahme von Chifra in Afar unweit von Dessie durch die Regierung zeigt. D h gibt die Regierung mit den Milizen auf, oder scheitert die TPLF an einer 1600 km langen Frontlinie?

        • @Gabriel Renoir:

          14% der äthiopischen Armee waren aus dem Tigre, oft auf technisch wichtigen Positionen, und 50% der Offiziere, laut AL Jazeera. Was ich nicht verstehe: Wenn jetzt Katalonien einen bewaffneten Freiheitskampf beginnen würde, oder Texas, oder Kerala: Würden dann die westlichen Medien diesem Unabhängigkeitsstreben der Region auch so wohlwollend gegenüberstehen?

          • @Gabriel Renoir:

            Hat die TAZ jetzt die Äthiopien-Berichterstattung eingestellt? Vom 3.11.-24.11. elf Berichte, z.T. TPLF-lastig. Das ist ein Zeitraum von 21 Tage. In den letzten 12 Tagen kein Bericht mehr. Man könnte zB erinnern, wie der militärische Konflikt begann, nämlich indem in Tigray 2 äthiopische Kasernen von der Tigray-Miliz niedergemacht wurden. Dann hat sich der Frontverlauf anscheinend zuletzt verändert. Der chinesische Außenminister war da. Der chinesische Botschafter hat Chinas Unterstützung versichert. Blinken war dagegen im Senegal.