Krieg in Äthiopien: In Tigray herrscht der Terror
Äthiopiens und Eritreas Armeen sollen in der Region Tigray plündern und Massaker verüben. Millionen von Menschen sind von der Außenwelt abgeschnitten.
Die USA verurteilten vor Kurzem „ethnische Säuberungen“ in der umkämpften Region und machen dafür Äthiopiens Regierung, Streitkräfte aus dem Nachbarland Eritrea und Milizen aus der an Tigray angrenzenden Amhara-Region verantwortlich. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach von möglichen Kriegsverbrechen in Tigray. Die Situation sei „außer Kontrolle geraten“, so die finnische Außenministers Pekka Haaviston nach einer Informationsreise nach Äthiopien im Auftrag der EU.
Die UNO erklären sich zutiefst beunruhigt über Berichte über sexuelle Gewalt, außergerichtliche Tötungen, weitverbreitete Zerstörung und Plünderung durch alle Parteien. UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet fügte hinzu: „Es gibt auch weiterhin glaubwürdige Informationen über schwerwiegende Verstöße aller Konfliktparteien in Tigray gegen die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht.“
USA, EU und UNO sind sich einig, dass die eritreischen Truppen sich zurückziehen müssen. Obwohl es überdeutliche Beweise gibt, dass eritreische Militärs sich in Tigray befinden, verneint Äthiopiens Regierung das. Die US-Beschuldigungen von ethnischen Säuberungen nannte das Außenministerium zudem „völlig unbegründet und ein falsches Urteil über die äthiopische Regierung.“
Erschreckende Berichte aus Tigray
Der Konflikt in Tigray hatte Anfang November 2020 begonnen, als Streitkräfte der in Tigray herrschenden TPLF (Tigray-Volksbefreiungsfront) eine Militärbasis der äthiopischen Armee angriffen und Äthiopiens Regierung daraufhin das Kriegsrecht verhängte und die TPLF-Regionalregierung absetzte. Äthiopiens Armee rückte in Tigray ein – begleitet von Amhara-Milizionären und unterstützt von Eritrea, sagen Oppositionelle – und Ende November erklärte die Regierung, sie habe Tigray unter Kontrolle und die Sicherheit sei wiederhergestellt.
Aber das Gegenteil sei der Fall, sagen westliche Geheimdienste, die die Situation verfolgen. Sie meinen, dass die Intensität der Kämpfe zwischen der als Guerilla kämpfenden TPLF und ihren Gegner zunimmt, weil eine Reihe von Massakern gegen Tigray-Zivilisten einem wachsenden Aufstand angeheizt hat.
Auch die Menschenrechtsorganisationen Amnesty international und Human Rights Watch (HRW) haben ausführliche Berichte auf Grundlage von Erklärungen von Augenzeugen veröffentlicht. Wenig ist zu überprüfen, weil die äthiopische Regierung Tigray von der Außenwelt abgeschnitten hat. Nur in den letzten Wochen wurden einige Journalisten und Hilfswerke hineingelassen – unter Aufsicht der Behörden. Aber nur Städte sind erreichbar. Was sich auf dem Land in den Bergen abspielt, bleibt für die Außenwelt unsichtbar.
Die Berichte der Menschenrechtsorganisationen lesen sich wie ein Kriegsroman, der mit jedem Kapitel grausiger wird. So haben laut HRW Truppen aus Eritrea in der historischen Stadt Axum Hunderte Zivilisten massakriert, darunter auch Kinder. Überlebende, die HRW zitiert, berichten, wie am 19. November äthiopische und eritreische Truppen die uralte Klosterstadt beschossen. Eine Woche lang hätten sie öffentliche Gebäude und Privathäuser geplündert und Zivilisten getötet. „Nachdem Tigray-Milizen und Bewohner von Axum am 28. November die eritreischen Truppen angriffen, erschossen eritreische Kräfte offensichtlich in Vergeltung innerhalb von 24 Stunden mehrere Hundert Bewohner, vor allem Männer und Jungs“, steht im HRW-Bericht zu lesen.
Satellitenbilder von Gräbern
Laetitia Bader, HRW-Direktorin für das Horn von Afrika, meint: „Die äthiopischen und eritreischen Behörden können sich nicht länger hinter einen Vorhang der Verleugnung verstecken.“ Die Anzahl der Toten in Axum ist nicht bekannt. HRW spricht von schätzungsweise 200 Toten an einem einzigen Tag. Amnesty International, das für seinen Bericht Tigray-Flüchtlinge in Sudan interviewt hat, sammelte Namen von 240 mutmaßlichen Todesopfern ein und schätzt, es gebe noch mehr.
Der Amnesty-Bericht zitiert einen 21-jährigen männlichen Bewohner von Axum: „Ich habe viele Tote auf der Straße gesehen. Sogar die Familie meines Onkels. Sechs seiner Familienmitglieder wurden getötet.“ Die Massaker ereigneten sich kurz vor einem wichtigen äthiopisch-orthodoxen Feiertag.
Amnesty berichtet weiter, dass hochauflösende Satellitenbilder vom 13. Dezember umgegrabene Erde bei verschiedenen Kirchen von Axum zeigen, was auf frische Gräber hindeuten könnte. „Es muss dringend eine UN-geführte Untersuchung der schwerwiegenden Menschenrechtsverstöße in Axum geben“, fordert Deprose Muchena, AI-Direktor für das südliche und östliche Afrika.
Neben solchen Verbrechen nimmt auch die Sorge über die Versorgungslage der Bevölkerung von Tigray zu. Die UNO schätzen, dass 4 Millionen Menschen, zwei Drittel der Bevölkerung Tigrays, dringend Nahrungsmittelhilfe brauchen. Madiha Raza vom Hilfswerk IRC (International Rescue Committee) sagte nach einem Besuch in der Kleinstadt Shire: „Es gibt immer wieder Probleme mit dem Zugang zu Nahrungsmitteln. Eine Frau, die wir sprachen, erzählte, dass sie einen Monat lang nur Blätter aß, während sie sich im Wald versteckte. Es gibt jetzt zwar Nahrungsmittelhilfe, aber bei Weitem nicht ausreichend.“
Auf dem Universitätscampus von Shire wohnen jetzt Hunderte von Menschen in ehemaligen Studentenwohnheimen und schlafen in Etagenbetten. Diejenigen, die keinen Platz in den Schlafsälen gefunden haben, wohnen in einem unfertigen Gebäude auf dem Campus, meldet Ärzte ohne Grenzen (MSF) und schlägt über den Gesundheitszustand der vielen Vertriebenen Alarm.
„Infektionen der Atemwege sind die Hauptkrankheit. Ist es Covifd-19? Niemand weiß es genau. Es sind keine Tests verfügbar, und es gibt keine Möglichkeit für Personen, an den überfüllten Standorten einen sicheren Abstand voneinander zu halten; keine Möglichkeit, Masken zu kaufen oder sich häufig die Hände zu waschen. Im Vergleich zu den vielen anderen Problemen, mit denen Menschen konfrontiert sind, steht Covid-19 ganz unten auf der Liste“, schreibt die Organisation in einem Bericht.
Soldaten besetzen Gesundheitseinrichtungen
Das Gesundheitswesen in Tigray wurde laut MSF in den Kämpfen weitgehend zerstört. Von 106 Gesundheitseinrichtungen, die bis Anfang März besucht werden konnten, seien 70 Prozent geplündert und mehr als 30 Prozent beschädigt worden, heißt es in einer neuen Erklärung. Von „flächendeckenden Plünderungen und gezielten Angriffen“ ist die Rede.
Regionalexperte Alex de Waal
„Jede fünfte von den Teams besuchte Gesundheitseinrichtung war von Soldaten besetzt. In einigen Fällen war dies nur vorübergehend, in anderen dauert die Besetzung noch an. In Mugulat im Osten von Tigray nutzen eritreische Soldaten die Gesundheitseinrichtung weiterhin als Stützpunkt. Das Krankenhaus in Abiy Addi in Zentral-Tigray, das eine halbe Million Einwohner versorgt, war bis Anfang März von äthiopischen Truppen besetzt.“ MSF versucht auch, Kliniken auf dem Lande zu erreichen, aber das ist schwierig. Es herrscht dort noch viel Unsicherheit und eine Erlaubnis der Behörden ist nur langsam zu bekommen.
Vertriebene, die in Städten ankommen, melden, dass die Lage in den Bergen sehr schlecht ist. Aus den Dörfern Abeba und Tseada am Fluss Zamra im südlichen Tigray wird berichtet, dass eritreische und äthiopische Truppen die Mango-Obstgärten abgeholzt haben.
Das ist keine Massaker und keine Massenvergewaltigung – aber, wie Regionalexperte Alex de Waal in seinem Blog für die World Peace Foundation schreibt: „Obstbäume sind die wesentliche Nahrungsquelle für die Landbevölkerung. Ihre Zerstörung ist eine besonders ungeheure Form des Hungerverbrechens, da die Genesung viele Jahre dauert. Die mutwillige Zerstörung der Obstgärten entlang des Flusses Zamra zeigt die Absicht der Armeen, die in Tigray wüten. Ihr Ziel ist es, die Tigrayer zu zermahlen, damit sie nie wieder aufstehen können.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Streit in der SPD über Kanzlerkandidatur
Die Verunsicherung
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit