Krieg in Äthiopien: „Danach wird es keine Gnade geben“
Der Krieg in Äthiopiens Region Tigray spitzt sich zu. Die Zentralregierung droht der Zivilbevölkerung der Regionalhauptstadt Mekelle.
Er kündigte die Einkesselung der 500.000-Einwohner-Stadt durch Äthiopiens Armee an und fügte hinzu: „Wir möchten der Öffentlichkeit in Mekelle eine Botschaft senden.“ Die Menschen hätten jetzt noch Zeit, sich vor Artilleriebeschuss in Sicherheit zu bringen und sich vor der „Junta“ zu retten, wie Äthiopiens Zentralregierung die Regionalregierung von Tigray bezeichnet. „Die Öffentlichkeit muss sich von der Junta trennen. Danach wird es keine Gnade geben.“
Seit Tagen warnt Äthiopiens Regierung vor dem bevorstehenden Höhepunkt des Krieges gegen Tigrays Machthaber, der am 4. November begonnen hatte. Die Regierung von Äthiopiens Ministerpräsident Abiy Ahmed, der 2018 als international gefeierter Reformer an die Macht in Addis Abeba gekommen war, geht militärisch gegen die in Tigray regierende TPLF (Tigray-Volksbefreiungsfront) vor, die sich 2019 von Abiys Regierungskoalition losgesagt hatte und im September 2020 trotz Verbots durch die Zentralmacht eigene Regionalwahlen abhielt.
Aus Sicht Addis Abebas sind die TPLF-Regierenden in Mekelle seitdem Rebellen. Als sie angeblich eine äthiopische Militärbasis angriffen, erklärte die Regierung ihnen den Krieg.
Äthiopischer Vorstoß ins Kerngebiet Tigrays
Äthiopiens Armee nahm in den vergangenen zweieinhalb Wochen erst die westlichen Teile Tigrays ein und rückte anschließend in Richtung des historischen Kerngebiets der Region vor, wo die Hauptstadt Mekelle liegt.
Nach eigenen Angaben hat sie in der vergangenen Woche die Geburtsstadt Shire des TPLF-Führers Debretsion Gebremichael erobert, die stategisch wichtige Stadt Adigrat auf der Straße nach Eritrea sowie die uralte christliche Kaiserstadt Axum, ein Weltkulturerbe, dessen jahrtausendealte Klöster Moses’ Bundeslade aus dem Alten Testament beherbergen sollen.
Professor Fetien Abay, Präsident der Universität Mekelle
Von Adigrat rücken die äthiopischen Truppen jetzt Richtung Mekelle vor. Sie sollen noch 100 Kilometer entfernt sein. Die Lufthoheit hat Äthiopiens Luftwaffe bereits.
Die Universität von Mekelle wurde am Donnerstag bombardiert. Nach Angaben von Augenzeugen gegenüber der taz, durch Fotos unterstützt, wurden 22 Studenten und vier weitere Zivilisten verletzt. Andere Quellen sprechen von 50 Verletzten.
In einer Botschaft, die die taz erreichte, listete Universitätspräsidentin Fetien Abay auch Luftangriffe auf ein Wasserkraftwerk, eine Zuckerfabrik und ein Lebensmittellager auf. „Wie kann eine Regierung ihr eigenes Volk bombardieren?“, fragt sie.
Warnungen vor einem bevorstehenden Massaker an der Tigray-Bevölkerung kommen von zahlreichen Stimmen aus der Region. Tigrayer in anderen Landesteilen leben bereits gefährlich, da sie für den Staat nunmehr unter Generalverdacht stehen. In Addis Abeba sollen Hunderte Tigrayer verhaftet worden sein.
Konten von Unternehmen aus Tigray wurden eingefroren, tigraystämmige äthiopische Diplomaten im Ausland nach Hause gerufen, sogar der aus Tigray stammende WHO-Generaldirektor Tedros Gebreyesus wird von der Armeespitze der Komplizenschaft mit Rebellen bezichtigt.
Tigrays Militärs sind auch nicht zimperlich
Aus militärischer Sicht macht das äthiopische Vorgehen in Tigray wenig Sinn. Die wüstenhafte, zerklüftete Berglandschaft rund um Mekelle ist praktisch uneinnehmbar. Das mussten in der Vergangenheit alle äthiopischen Regierungen lernen, die das versuchten. Nicht von ungefähr schlug Äthiopien im 19. Jahrhundert als einziges Land Afrikas seine Eroberung durch europäische Kolonisatoren zurück und blieb unabhängig.
Die in Tigray regierende TPLF entstand in den 1970er Jahren als Guerillabewegung gegen die äthiopische Zentralmacht, war bis 2018 führend in Äthiopiens Regierung und hält bis heute Zehntausende kriegsgestählte Kämpfer unter Waffen.
Im aktuellen Krieg ist auch Tigray nicht zimperlich: Die Amhara-Hauptstadt Bahir Dar wurde mit Raketen beschossen, ebenso das Nachbarland Eritrea, dem die Unterstützung der äthiopischen Offensive vorgeworfen wird. Ungeklärt bleibt auch ein Massaker im Ort Mai-Kadra an mehreren hundert Nicht-Tigrayern, deren Leichen die einrückende äthiopische Armee am 10. November fand.
Doch umgekehrt wird Äthiopiens Armee und den an ihrer Seite in Tigray kämpfenden ethnischen Milizen der Amhara-Regionalregierung vorgeworfen, unterschiedslos die gesamte Tigray-Bevölkerung als Feind zu behandeln.
In sozialen Netzwerken wurde am Sonntag über eine mutmaßliche Drohung diskutiert, Mekelle mit Chemiewaffen anzugreifen. Ein regierungstreuer Scharfmacher in Addis Abeba hatte geschrieben: „Um den Dämon zu erobern, der sich in Mekelle versteckt und den die Zivilbevölkerung schützt: Wenn man sie aus dem Hubschrauber mit Weihwasser besprüht, wer weiß, ich denke, sie würden schreiend auf die Straße rennen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Pressefreiheit unter Netanjahu
Israels Regierung boykottiert Zeitung „Haaretz“