Krebserregender Baustoff in Wohnhäusern: Es droht die Asbest-Welle
Die IG Bau warnt: Knapp 10 Millionen sanierungsbedürftige Bauten in Deutschland bergen Asbest. Eigentlich ungefährlich – bis die Sanierung ansteht.
Er kann überall stecken. In den Dichtungen der Heizung im Keller oder in der Verkleidung der Rohre, auch im Kleber von Parkett, Teppichboden oder Badezimmerfliesen, genauso im Kitt der Fenster, in den Schächten für den Aufzug oder für die Lüftung, in Fassaden- und Dachplatten auf dem Gartenhaus, im Putz.
Betroffen vom Risiko: fast die Hälfte aller Wohngebäude in Deutschland. Anders gesagt: Alle gut 9,4 Millionen Wohnhäuser, die zwischen 1950 bis 1990 gebaut wurden. Denn in dieser Zeit haben Ost und West rund 4,35 Millionen Tonnen Asbest importiert, eine eigene Asbestmine gab es hier nie. „Es ist davon auszugehen, dass es in jedem Gebäude, das in diesen vier Jahrzehnten gebaut, modernisiert oder umgebaut wurde, Asbest gibt. Mal mehr, mal weniger“, sagt Carsten Burckhardt, im Bundesvorstand der IG BAU für die Bauwirtschaft und den Arbeitsschutz zuständig.
Mittlerweile sind die Häuser in die Jahre gekommen. Ihre Modernisierung steht an, damit Energie nicht weiter zum Fenster rausgejagt wird, damit sie kein Hindernisparcours für die älter gewordenen Bewohner werden, damit sie auch mehr Platz bieten in Zeiten von Wohnungsmangel. So müssen neue Etagen aufs Dach gesetzt, Türen und Fenster ausgetauscht, Aufzüge nachgerüstet, Treppenlifte eingebaut, Badewannen durch ebenerdige Duschen ersetzt werden. Da lauert die laut Burckhardt „unsichtbare Gefahr“.
Amalgam im Mund, Asbest im Haus
Denn beim Abschleifen, Abreißen und Abbrechen werden die zuvor fest verbundenen Asbestfasern freigesetzt. Michael Kirsch von der Bau-Berufsgenossenschaft meint, es sei ähnlich wie bei Amalgam in der Zahnfüllung: „So lange nicht daran gebohrt, gefräst, geschliffen wird, geht da auch keine Gefahr aus.“ Das ist auch als weitgehende Entwarnung für die Bewohner der Gebäude zu sehen – solange sie nicht renovieren oder sanieren.
Die Asbestfasern – winzige Mineralfasern – sind tausend Mal kleiner als ein menschliches Haar und nicht zu sehen. Darum wissen Handwerkerinnen und Handwerker oft auch nichts davon. Die Wirkung, die sie auf Menschen haben, treten Jahrzehnte später auf: Asbestose, Lungen-, Bauchfell-, Kehlkopf-, Eierstockkrebs. Allein im Jahr 2017 starben so zum Beispiel 1.630 Personen; die asbestbedingten Erkrankungen machten damit 63 Prozent aller Todesfälle infolge einer Berufskrankheit aus. Das rechnete die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2020 schon vor im Bericht „Nationales Asbest Profil Deutschland“.
Erste Warnungen gab es bereits 1898
Asbest ist ein gutes Beispiel dafür, wie aus frühen Warnungen erst spät Konsequenzen gezogen wurden. Es galt lange als Mineral der tausend Möglichkeiten, als „geiles Zeug“, sagt Burckhardt. Dabei habe es die „erste eindeutige und glaubhafte Warnung“, erklärte die Europäische Umweltagentur einmal, schon 1898 gegeben.
Da habe die britische Gewerbeaufsichtsbeamtin Lucy Deane geschrieben, dass infolge der „schlimmen Wirkung von Asbeststaub“ der königliche Leibarzt den Mineralstaub mikroskopisch untersucht habe. Die „scharfe, glassplitterähnliche Form der Partikel“ sei klar erkennbar gewesen. „Wo immer sie aufsteigen und sich selbst in geringen Mengen in der Raumluft verteilen konnten, traten die erwarteten schädigenden Auswirkungen ein.“
Es sollte 100 Jahre dauern, bis sich die britische Regierung zu einem Verbot von Asbest entschloss. Im darauffolgenden Jahr, 1999, schloss sich die Europäische Union einem Verbot an, Deutschland hatte früher gehandelt, aber nicht früh genug.
So stehen nun in Berlin 122.000 Wohnhäuser unter Asbestverdacht, in Hamburg 142.000, in Bremen 76.000. Das zeigt eine Analyse, die das Pestel-Institut Hannover im Auftrag der IG BAU gemacht hat. Am meisten sind es in Nordrhein-Westfalen: 2,2 Millionen. In Bayern sind es 1,7 Millionen, in Baden-Württemberg 1,3 Millionen, in Niedersachsen 1,2 Millionen. Weniger sind es in Hessen: 793.000, Rheinland-Pfalz: 611.000, Schleswig-Holstein: 432.000, Sachsen: 182.000, Saarland: 171.000, Brandenburg: 153.000, Thüringen: 144.000, Sachsen-Anhalt: 141.000, Mecklenburg-Vorpommern 110.000.
Gewerkschafter Carsten Burckhardt fordert unter anderem einen Schadstoff-Gebäudepass mit unterschiedlichen Gefahrenstufen für die jeweilige Asbestbelastung eines Gebäudes: „Jeder Bauarbeiter und jeder Heimwerker muss wissen, auf was er sich einlässt, wenn er Fliesen abschlägt, Wände einreißt oder Fassaden saniert.“ In Frankreich gibt es den bereits. Burckhardt plädiert für einen Asbestgipfel von Bund, Ländern und Kommunen und eine staatliche Sanierungs-, ja: Abwrackprämie. Sie soll helfen, Kosten abzufedern, die etwa bei einer energetischen oder altersgerechten Sanierung in asbestbelasteten Wohnhäusern zusätzlich entstehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“