Kosmopolitismus und Dialekte: Weltbürger sprechen schwäbisch
Ist Schwäbisch ein bestechend guter Grund, den Dialekt einen langsamen Tod sterben zu lassen? Nein. Ganz im Gegenteil.
Vor ein paar Jahren stand ich, eingeklemmt zwischen zum Bersten gefüllten Rucksäcken von Teenies in blau-weißen Schuluniformen, im Bus Nummer 88 Richtung Zhongshan Park in Shanghai. „Nächster Halt: Gubei Road“, kündigte die Lautsprecherstimme erst auf Englisch und dann in glockenklarem Chinesisch an, während ich versuchte, zwischen den Rucksäcken das Gleichgewicht zu halten.
Dann folgte ein rotziger, mir unverständlicher sprachlicher Brei aus Äs und Ös, ebenfalls von der eben noch engelsgleichen Lautsprecherstimme. „Die Haltestellenansagen sind jetzt auch auf Shanghainesisch“, erklärte man mir später, und dabei klang Stolz durch. Ich war einigermaßen deprimiert. Zehn Jahre an dem eigenen Chinesisch feilen, um dann doch nicht richtig mitreden und zuhören zu können?
„Sang-hä-o“, zu Hochchinesisch shang-hai-hua, gehört zur Sprachfamilie des Wu-Chinesisch und ist für die meisten Mandarin-SprecherInnen fast gänzlich unverständlich. Trotzdem erlebt der Dialekt seit einigen Jahren eine Hochphase. Während lokale Schulen Anfang der Neunziger ausschließlich auf Hochchinesisch unterrichten mussten, gibt es heute Kindergärten, in denen freitags nur Dialekt gesprochen wird. Im Fernsehen tritt ein beliebter Komiker auf, der seine Witze auf Shanghainesisch macht. Und von den dreisprachigen Ansagen im öffentlichen Nahverkehr sollen besonders die über 60-Jährigen profitieren, die häufig nicht richtig Hochchinesisch sprechen und noch häufiger mit dem Bus fahren.
Shanghai bemüht sich seit über zehn Jahren, den lokalen Dialekt vor dem Aussterben zu retten. Auf keinen Fall mit der Absicht, den von Staatsoberhaupt Xi Jinping so befeuerten Nationalismus durch regionale Identität zu ersetzen. Aber in dieser Megastadt mit über 24 Millionen EinwohnerInnen scheint es sinnvoll, nach Ankern für Zusammenhalt Ausschau zu halten.
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Genau das will Winfried Kretschmann jetzt auch. Natürlich nicht in einer Megastadt und nicht mit einem chinesischen Dialekt, sondern mit Schwäbisch. Ginge es nach Kretschmann würde das, was 8.873 Kilometer östlich von Stuttgart passiert, bald auch bei ihm daheim umgesetzt. Der grüne Ministerpräsident startet eine Initiative zum Erhalt baden-württembergischer Dialekte. Der Stuttgarter Zeitung sagte Kretschmann, Dialekt schaffe Bodenhaftung. Außerdem würden die verschiedenen Mundarten Vielfalt im Land widerspiegeln.
Gerade bei Schwäbisch lässt sich sofort ein bestechend guter Grund anführen, den Dialekt einen langsamen Tod sterben zu lassen: Es klingd ganz schregglich. Schrecklicher als Shanghainesisch. Zumindest für die Ohren einer Braunschweigerin.
Tradition? Zukunft!
Schlimmer als diese Geschmackssache ist aber etwas anderes. Wenn es um den Erhalt eines Bruchteils der sogenannten deutschen Identität geht, dann stößt da schnell eine dumpfe Sorge das Gedankenkarussell der modernen Kosmopolitin an: Rückbesinnung auf Dialekte, auf das Regionale, das Kleinteilige? Das kann nur ausschließend sein, rückwärtsgewandt, weil es hier um Tradition geht, um das Konservieren einer lokalspezifischen „deutschen Identität“, und Konserve kommt von konservativ und konservativ ist tendenziell rechts und rechts ist man schon nah an Nazi.
Wenn man dann aber die Gedanken in Ruhe und mit ein bisschen Abstand sortiert, wird klar: Es ist gefährlich, die Suche nach Identität im Traditionellen und Bekannten reflexartig als rückschrittlich abzutun. Insofern hat Winfried Kretschmann recht, wenn er sich dafür ausspricht, das Thema Heimat nicht den Rechten zu überlassen.
Kosmopolitismus ist, zumindest unter denen, die sich gern als WeltbürgerInnen bezeichnen, zu einer Art neuen Heimat geworden. Da gibt es etwa die digital nomads: Menschen, die behaupten, sie könnten überall auf der Welt zu Hause sein. Für die Sesshaftigkeit kein Lebensziel mehr ist, sondern das Häuschen mit Garten eher ein Verfallssymptom zu sein scheint. Oder, für die meisten wohl zutreffender: Das Gefühl, StadtbewohnerInnen irgendwo am anderen Ende der Welt viel näher zu sein als DorfbewohnerInnen im nahegelegenen Brandenburg.
Ich sehe die Welt gern als Ganzes. Als fluide Gemeinschaft, verbunden durch Menschliches anstatt getrennt durch Erfindungen wie den Nationalstaat. Trotzdem ist diese Idee nicht frei von Ausschluss und Grüppchenbildung. Ihr haftet eine gewisse Arroganz an, eine urbane Mittelschichts-Überheblichkeit, in der die moderne, polyglotte Stadtgesellschaft („Einen Flat White und ein Brioche, bitte“) der hinterwäldlerischen Provinz („’N Kaffe und ’ne Schrippe nehm ick“) überlegen ist.
Innerhalb dieses WeltbürgerInnentums ist man sehr darauf bedacht, gegen den Nationalstaat zu sein. Oft so sehr, dass schnell ein Automatismus mitschwingt, jede identitätsstiftende Ebene unterhalb Europas oder eigentlich sogar unterhalb der Weltgemeinschaft als schlecht zu verteufeln. Dabei ist Region nicht gleich Nation und der Erhalt sprachlicher Vielfalt, mit ihren akustisch angenehmen und weniger erträglichen Seiten, absolut notwendig. Denn sie macht uns reicher und klüger.
Kosmopolitismus ohne Dialekte ist Schmarrn. Sprachliche Vielfalt schafft eine weitere Ebene, auf der sich Menschen begegnen können, die sonst eher weniger gemeinsam haben. Stellen Sie sich vor, es treffen sich eine Schwäbin und eine Shanghainesin. Die verstehen sich höchstwahrscheinlich null, wenn sie ihren jeweiligen Dialekt sprechen. Aber was glauben Sie, wie sich diese zwei Menschen nahe sein können, wenn sie sich in einer gemeinsamen Sprache darüber austauschen, was ihr Dialekt für sie bedeutet? Oder wie sich der Rest der umliegenden Nation über die jeweiligen DialektsprecherInnen lustig macht? Das könnte sie einander näher bringen, ab von Staatsangehörigkeiten, sozialer Lage oder Religion. Ein bisschen romantisch finde ich das.
Rucola? Dracula!
Die Welt rückt nicht gleich weiter auseinander, wenn an Schulen auch Dialekte unterrichtet werden. Solange das Prinzip keiner rassistischen und steifen Logik folgt, in der Schwäbisch und Bayerisch zum wichtigen Merkmal „unserer Heimat“ werden – der spezifische Sprachgebrauch von ZuwanderInnen aber als „falsches Deutsch“ abgestempelt wird. Der Fehler liegt also nicht in der Förderung der Unterschiedlichkeit, im Erhalt des Schwäbischen. Der Fehler liegt im diskriminierenden Umgang mit neuen Sprachformen.
Manchmal scheint es mir, als gälte für die deutsche Sprache ein ähnlich penibles Reinheitsgebot wie für deutsches Bier. Jedenfalls für Zugewanderte. Meine Mutter wird bis heute ständig und ungefragt von ihren Mitmenschen korrigiert, wenn sie Personalpronomen vertauscht oder Rucola – zuerst aus Versehen und dann aus Spaß – Dracula nennt. Wenn manche Jugendliche mit Migrationsgeschichte virtuos Grammatik und Wörter aus zwei oder mehr Sprachen zusammenbringen, gilt das häufig als Defizit.
Ähnlich verklemmt läuft die öffentliche Debatte über Mehrsprachigkeit ab: Zwei Muttersprachen zu sprechen ist in der kapitalistischen Verwertungslogik ein tolles Plus auf dem Lebenslauf. Aber wenn die Bild-Zeitung titelt, dass nur eines von 103 Kindern zu Hause Deutsch spreche und das als Untergang des Abendlandes brandmarkt, dann will sie damit stigmatisieren und skandalisieren.
Und jetzt? Die Schlussfolgerung ist eigentlich ganz einfach: Wenn man das Alte erhält und das Neue fördert, dann ist das eben nicht mehr rein konservativ, sondern progressiv. Mehrsprachigkeit ist die logische Realität einer Welt, die immer näher zusammenrückt und gleichzeitig so komplex ist, dass wir uns nach dem Altbekannten sehnen. Und wer mehr Sprachen spricht – auch Dialekte –, versteht die Welt ein bisschen besser.
Deswegen also: Ohne Schwäbisch kein echter Kosmopolitismus. Aber eben auch kein Kosmopolitismus ohne die Zweideutigkeit von „Kartoffel“, einen entspannten Umgang mit Personalpronomen oder kiezdeutsche Sätze wie „Lassma Mauerpark gehen“.
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