Konvivialistisches Manifest: Zusammenleben für die Zukunft
In einem Manifest fordern 40 Intellektuelle – darunter Eva Illouz, Chantal Mouffe und Eve Chiappello – Fürsorge und Maßhalten im globalen Maßstab.
Die romanischen Sprachen haben es in manchen Dingen leichter. Ein lateinischstämmiges Wort wie „convivialisme“ klingt dort viel weniger akademisch als im Deutschen, denn „conviver“, aus dem sich der Begriff herleitet, bedeutet im Französischen schlicht „zusammenleben“. Und um genau diese Frage geht es dem Konvivialismus, der auf eine Gruppe Intellektueller um den Pariser Soziologen Alain Caillé zurückgeht.
Rund 40 Autoren und Autorinnen – darunter Eva Illouz, Chantal Mouffe, Edgar Morin oder Yann Moulier-Boutang, stehen hinter dem „konvivialistischen Manifest“, das jetzt als Büchlein erschienen ist. Mit ihrem Text bringen sie dringende Fragen auf den Punkt: „Wie mit der Rivalität und der Gewalt zwischen den Menschen umgehen? Wie sie dazu bewegen, zusammenzuarbeiten, um sich weiterzuentwickeln, wobei jeder das Beste von sich selbst gibt, sodass es möglich wird, einander zu widersprechen, ohne einander niederzumetzeln? Wie lässt sich die heute grenzenlose und potenziell selbstzerstörerische Anhäufung von Macht über Mensch und Natur verhindern?“
Die Verfasser lassen keinen Zweifel daran, dass ihr Aufruf kein bloßer Denkanstoß sein soll, vielmehr geht es ihnen ums Ganze: „Ohne eine rasche Antwort auf diese Fragen wird die Menschheit untergehen.“ Da in der Politik nach wie vor ökonomischen Fragen der Vorrang gebühre und die natürlichen Ressourcen als prinzipiell unendlich behandelt würden, sei von dort aktuell wenig Hilfe zu erwarten. Demgegenüber stünden eine Vielzahl von Initiativen, die an einer Antwort im Sinne des Konvivialismus arbeiten: Von fairem Handel, lokalen Tauschsystemen über Wachstumsrücknahme bis zu den Indignados, Occupy Wall Street und den Care-Ethics gebe es zahlreiche Bewegungen des Maßhaltens. Deren Energien gelte es zu bündeln, um „der tödlichen Dynamik unserer Zeit mit hinreichender Kraft entgegenzuarbeiten“.
Da der Text im weitesten Sinne ein Konsenspapier der beteiligten Denker ist, überrascht es nicht, dass die Analysen und Forderungen allgemein gehalten sind und mitunter sehr offensichtlich scheinen. Wenn eine der Grundannahmen etwa lautet: „Die einzige legitime Politik ist diejenige, die sich auf das Prinzip einer gemeinsamen Menschheit, einer gemeinsamen Sozialität, der Individuation und der Konfliktbeherrschung beruft“, klingt das zunächst einleuchtend, man fragt sich aber, wie die konkrete Ausgestaltung zu denken ist.
Kein konkreter Entwurf
Dieses Defizits sind sich die Autoren bewusst: „Die schwierigste Aufgabe, die dazu erfüllt werden muss, besteht darin, ein Bündel politischer, wirtschaftlicher und sozialer Maßnahmen vorzuschlagen, die es der größtmöglichen Zahl von Menschen ermöglichen, zu ermessen, was sie bei einer neuen konvivialistischen Ausgangssituation (einem New Deal) nicht nur mittel- oder langfristig, sondern sofort zu gewinnen haben. Schon morgen.“
Auch wenn die Konvivialisten keinen konkreten Entwurf parat haben, kann man ihnen zugute halten, dass ihr Text ja kein Regierungsprogramm ist, sondern ein Manifest. Und dass sie mit ihren Anliegen in Politik und Wirtschaft auf Widerstand stoßen dürften, verschweigen die Autoren ebenso wenig. Man sollte das „konvivialistische Manifest“ daher in erster Linie als Hilfeschrei lesen. Ein Schrei allerdings, der die Vision einer besseren Zukunft zumindest andeutet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Berliner Kultur von Kürzungen bedroht
Was wird aus Berlin, wenn der kulturelle Humus vertrocknet?