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Konsens-Sucht in Deutschland?Moral statt Streit

Essay von Jan Schroeder

Um die politische Streitkultur ist es in Deutschland schlecht bestellt. Die „Cancel Culture“ befördert diese besorgniserregende Entwicklung.

Ohne grundsätzliche Kritik ist der demokratische Geist auf Dauer nicht lebensfähig Illustration: Katja Gendikova

S treit gehört nicht nur zur Demokratie, er definiert sie. Ohne Freiheit zur Kritik kann es weder Demokratie noch Veränderung und Fortschritt geben. Einigkeit hingegen ist das Ideal totalitärer Systeme, die Pluralismus und Gewaltenteilung ablehnen. Überhaupt beruht Demokratie seit den ersten liberalen politischen Theorien von John Locke und Montesquieu auf der gegenseitigen Kritik von Legislative, Judikative und Exekutive: checks und balances. In Deutschland jedoch stand es schon lange vor der Cancel-Culture-Debatte der vergangenen Jahre schlecht um die demokratische Streitkultur.

Wer in der deutschen Politik streitet, macht sich schnell unbeliebt. Konflikte gelten als Zeichen der Schwäche, der Kritiker tendenziell als Miesmacher. Das bekommen gegenwärtig die Ampel-Parteien in der Regierung und die Linkspartei in der Opposition zu spüren, während die (zumindest seit dem letzten Parteitag) demonstrativ geschlossene AfD ein Umfragehoch erklimmt. Glaubt man Umfragen, bevorzugen die Deutschen Einheit, würden am liebsten weiter von einer Großen Koalition aus regiert werden und interpretieren jeden Konflikt wahlweise als „Chaos“ oder als unnötigen „Zoff“.

Die Klugheit der AfD besteht darin, sich nicht als Störenfried zu vermarkten, sondern als Opfer einer ungerechten, zänkischen Kritik. In ihrer Selbstdarstellung will sie zurück in harmonische Zeiten, in denen etwa „Genderideologen“ und Grüne noch nicht mäkelten.

Vor genau 60 Jahren verglichen die Politikwissenschaftler Gabriel Almond und Sidney Verba in ihrer empirischen Studie „The Civic Culture“ die politische Kultur in fünf Nationen, wobei, wenig überraschend, die postfaschistischen Länder Deutschland und Italien besonders schlecht abschnitten. Die Bundesrepublik leide unter einer aus der absolutistischen und nationalsozialistischen Vergangenheit ererbten Kultur des Obrigkeitsdenkens und des Etatismus, urteilten Almond und Verba.

„Das Erbe der autoritären Herrschaft hat in Deutschland eine politische Kultur produziert, in der der passive, konsumierende Bürger überwiegt“, schreiben sie. Von Kaiser Wilhelm II., der keine Parteien, sondern nur noch Deutsche kennen wollte, bis zu den Nationalsozialisten, die gegen das „Parteiengezänk“ wetterten und Kritiker als „Diversionisten“ bezeichneten, habe sich eine kulturell tief verankerte Abneigung gegen Streit und Abweichung etabliert. Allein schon Textgattungen wie diese, Essay, Polemik und Streitschrift, Genres der Kritik par excellence, haben sich hierzulande nie so etabliert wie in den wesentlich älteren angelsächsischen Demokratien.

Kaum eine Rede des Bundespräsidenten kommt noch im Jahr 2023 ohne die Warnung vor der Spaltung der Gesellschaft aus

„Wer kritisiert“, schrieb Theodor W. Adorno in einem Artikel in der Zeit von 1969, vergehe sich, auch im „plötzlich demokratisch“ gewordenen Deutschland, gegen ein „Einheitstabu, das auf totalitäre Organisation hinauswill“. Der Kritiker werde als „Spalter“ denunziert, gemäß der Prämisse, dass Pluralismus per se schlecht sei. Umso fragwürdiger, dass noch im Jahr 2023 kaum eine Rede des Bundespräsidenten ohne die Warnung vor der „Spaltung der Gesellschaft“ auskommt.

Ein wesentlicher Faktor beim Niedergang der Streitkultur in Deutschland spielt der Studie „The Civic Culture“ zufolge die Passivität des Politikverständnisses der Bundesbürger. Im Vergleich zu den Sechzigern haben sich die Dinge in diesem Punkt noch dramatisch verschlechtert: Nicht nur die Anzahl der Mitglieder von Parteien, Gewerkschaften und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen ist besonders in den vergangenen 30 Jahren rapide zurückgegangen, sondern auch die Qualität der Mitgliedschaften, die inzwischen überall in etwa dem vom Kunden zu einem Dienstleister ähneln, wie der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch in seinem Buch „Postdemokratie“ schon vor knapp zwanzig Jahren feststellte.

Keine langfristige Strategie der Parteien

Diese tiefer gehende Entpolitisierung der Zivilgesellschaft scheint sich ungebrochen fortzusetzen. Von einer Re-Politisierung, wie sie zum Beispiel Politikwissenschaftler wie Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser in ihrem Buch „Triggerpunkte“ feststellen, kann bestenfalls unter Ausblendung dieses Bereichs die Rede sein.

Die gegenwärtigen politischen Parteien erscheinen von einem größeren geschichtlichen Standpunkt aus als orientierungslos: Niemand scheint eine langfristige Strategie oder Zukunftsvorstellung zu haben, die den nächsten Wahlzyklus überdauert. Statt positiver Utopien versprechen Politiker heute nur mehr, das Schlimmste – Klimakrise, Deindustrialisierung, Putin, Terror et cetera – zu verhindern.

Je nach Partei variiert das Szenario; ihnen zugrunde liegt allerdings ein gemeinsamer Kern. Ideologien und Utopien sind nicht überwunden, sondern ins Negative verkehrt. Während die Fortschrittsversprechen der Vergangenheit nicht mehr überzeugen, hat Politik als Versuch, eine bessere Gesellschaft einzurichten, abgedankt. Dadurch aber ist ihr Sinn selbst fragwürdig geworden, was sich in der Entpolitisierung der vergangenen Jahrzehnte längst nicht nur in Deutschland deutlich zeigt.

Cancel Culture erscheint dagegen als eine Art Ersatzbefriedigung. Sie erlaubt der öffentlichen Meinung, unmittelbar wirksam zu sein, direktdemokratisch. Der belgische Historiker Anton Jäger beschreibt sie in seinem in diesem Herbst erschienenen Buch „Hyperpolitik“ als „extreme Politisierung ohne politische Folgen“. Sie ist Ausdruck davon, wie schlecht es um die politische Streitkultur bestellt ist. In ihr geht es nicht um politische Inhalte; sie ist rein moralisch. Sie spricht im Sinne einer sich als kultiviert verstehenden Elite gegen Nichtakademiker. Sie beruft sich auf verletzte Tabus statt auf vernünftige Argumente. Mit ihr ist nicht zu diskutieren. Wo sich Cancel Culture avant la lettre wie in den Siebzigern mit Notstandsgesetzen und Berufsverboten für „Radikale“ vor allem gegen Linke richtete, wendet sie sich heute zumeist gegen Rechte – viele verstehen sie deshalb als progressiv.

Linke, die Meinungsfreiheit beschneiden

Die Neue Linke in den Sechzigern begann dagegen als Bewegung für radikale Redefreiheit, während der gegenwärtigen vermeintlichen Linken jenes Recht fragwürdig erscheint. Skandalös ist, dass sie es der AfD damit erlaubt, sich als Kämpfer für liberale Freiheiten zu inszenieren. Gegenwärtig haben sowohl Rechte wie auch so genannte Linke oft ein rein taktisches Verhältnis zur Redefreiheit und rufen jeweils nach Verboten von Aussagen ihres politischen Gegners.

Wie weit sich antidemokratische Stimmungen in der so genannten Mitte der Gesellschaft breitgemacht haben, zeigt sich an der Beliebtheit von Verbotsforderungen gegen missliebige Meinungen politisch völlig ohnmächtiger und skurriler Minderheiten wie der Gegner der Coronamaßnahmen. Redefreiheit hat jedoch nur dann einen Sinn, wenn sie Meinungen von Minderheiten schützt. Sie beginnt erst dort, wo es der Mehrheitsmeinung zu weit geht.

In der Weimarer Republik benutzten die Na­tio­nalsozialisten die illiberalen Elemente der Verfassung – Notstandsgesetze, Parteienverbote und Redeeinschränkungen – als Einfallstor, um die liberale Ordnung ganz zu kippen. Sie riefen den Ausnahmezustand aus und machten ihn zur Regel. Dafür mussten sie zunächst nicht einmal die Verfassung ändern. Hitler kam nicht allein deshalb an die Macht, weil er frei reden konnte. Hätte man ihn stoppen wollen, wäre das ohne Weiteres wegen der Taten – nicht der Worte – möglich gewesen.

Beschränkte Redefreiheit

Doch vor den Weimarer Gerichten kamen die Nationalsozialisten für politische Morde, Putschversuche und Angriffe regelmäßig mit milden Strafen davon. In Wirklichkeit unterstützte die bürgerliche Mitte die Nationalsozialisten, um Kommunisten und Sozialisten loszuwerden, während die zahlreichen Rede- und Versammlungsverbote gegen Nationalsozialisten von diesen geschickt als effektive Propagandamittel genutzt wurde, um die Demokratie als bloße Fassade verächtlich zu machen.

Gegenwärtig schaden so auch die neueren Einschränkungen der Redefreiheit, etwa die Verschärfung des Volksverhetzungsparagrafen erst zu Beginn des Ukrainekriegs und nun womöglich wegen des Nahost-Konflikts, der demokratischen Kultur. Sie fußen auf der falschen Prämisse, die Zivilgesellschaft würde mit reaktionären Tendenzen nicht fertig. Von einer „wehrhaften“ Demokratie kann aber nur dann die Rede sein, wenn die Zivilgesellschaft selbst in der Lage ist, demokratiefeindlichen Tendenzen in Wort und Tat entgegenzutreten. Die amerikanische Verfassung sieht – in Deutschland ist nach Strafgesetzbuch Paragraph 90a die „Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole“ strafbar – aus exakt diesem Grund die Redefreiheit ausdrücklich auch für Verfassungsfeinde vor.

Ohne auch grundsätzlicher Kritik an der Demokratie ist der demokratische Geist auf Dauer nicht lebensfähig. Eine Gesellschaft, die sich nicht von Zeit zu Zeit ihrer eigenen Normen vergewissern müsste, würde verlernt haben, sich selbst aufzuklären. Darin wird deutlich, dass Redefreiheit sowohl das Recht zu sprechen als auch das Recht zu hören beinhaltet. Sie ist kein rein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Recht. Wenn Verfassungsfeinde Zulauf haben, kann das, um ein Wort von Bertolt Brecht zu variieren, kein Grund für die Regierung sein, dem Volk das Vertrauen zu entziehen, es aufzulösen und ein anderes zu wählen. Vielmehr müsste das demokratische Lager selbstkritisch die eigene Politik überdenken. Wer mehr Demokratie will, muss mehr Streit zulassen.

Was konstruiert Tatsachen?

Würden populäre Phrasen wie die, dass zwar jeder sein Recht auf eine eigene Meinung, nicht aber auf eigene Fakten habe, konsequent zu Ende gedacht, müsste ein orwellianisches Wahrheitsministerium eröffnet werden, das dann per Dekret eine mehr als 2.000 Jahre alte philosophische Diskussion darüber beenden würde, was überhaupt Tatsachen konstituiert.

Die Idee der freien Meinungsäußerung, so Adorno, sei nicht von der einer freien Gesellschaft zu trennen und beinhalte notwendigerweise das Recht, „die eigene Meinung vorzubringen, zu verfechten und womöglich durchzusetzen, auch wenn sie falsch, irr, verhängnisvoll ist. Wollte man aber darum das Recht auf freie Meinungsäußerung beschneiden, so steuerte man unmittelbar auf jene Tyrannei los, die freilich mittelbar in der Konsequenz von Meinung liegt.“

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7 Kommentare

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  • Demokratie ist nicht die Herrschaft der Mehrheit, sondern die Garantie, dass jede:r Einzelne an der Beratung und Entscheidung teilhaben darf. Eine wehrhafte Demokratie verteidigt dieses letzte Recht gegen alle, und insbesondere gegen diejenigen, die als selbsternannte Demokrat:innen fordern, jede:r habe sich gefälligst der Mehrheit zu unterwerfen oder dürfe nicht Teil der Gesellschaft sein.



    „Cancel Culture“ und „Spaltung“ sind unter diesem Blickwinkel zu betrachten: Werden Gegner:innen der demokratischen Teilhabe gecancelt (ok!) oder Gegner:innen der (vermeintlichen) Mehrheitsmeinung (nicht ok!) Nur so wird ein Schuh draus!

  • Die eingangs genannte Prämisse und Distinktionslinie, Streit sei das demokratische Ideal und Einigkeit, jenes der Autokratien und der totalitären Systeme, ist leider arg verkürzt. Der eigentliche Unterschied ist ein wenig anders gelagert. Auch anti-totalitäre Systeme streben nach Einigkeit, allerdings unter Einbezug und Mitwirkung aller (relevanten) Stimmen. Die Einigkeit der Totalitären, ist eine verordnete Einigkeit ohne Mitwirkung. D.h es ist nicht der Unterschied zwischen Streit und Einigkeit, sondern der wie Einigkeit erzielt wird. Es sind ohne Weiteres demokratische Einigkeiten ohne jeden Streit denkbar. Diese haben keineswegs einen Makel aufgrund des konsensuellen Zustandekommens, sofern eine transparente und Teilhabe sichernde Prozedur dazu führte. Kurzum, es ist der Weg zur Einigkeit, der den Unterschied macht. Leider baut die übrige Argumentation weitgehend suf diesem unscharfen Start auf. Übrigens streitet die Philosophie auch nicht darüber "was Tatsachen konstituiert". Tatsachen sind qua Definition Bestandteile der Wirklichkeit. Das ins Spiel gebrachte orwellsche Wahrheitsministerium müsste darüber richten, welche Aussagen mit Tatsachen übereinstimmen. Falls jedoch streit darüber herrschen sollte, was zu Tatsachen zu zählen ist und was nicht, wäre es ein Ministerium, das über Qualität von Evidenz zu entscheiden hätte. Das sind aus der Sicht der Philosophie essenzielle Unterschiede.

  • Ich bin beeindruckt. Die Klarheit der Argumentation, das klar vor Augen stehende Ziel, haben mich überzeugt. Wobei, es war doch eher ein einrennen offener Türen, mit einer Handvoll Argumente im Koffer, die mir so nicht klar gewesen waren.

    Freiheit... ist immer die Freiheit der Andersdenkenden. Rosa Luxenburg mag es anders gemeint haben, wir haben dafür diesen Grundsatz gleich ganz vergessen. Schande über uns.

  • Das Ganze liest sich wie ein besserer Schulaufsatz.

    Für den Durchschnittsbürger sind die Grenzen der Redefreiheit in derart weiter Ferne, dass sich die Diskussion darüber fast nicht lohnt. Grenzen greifen in homöopathischen Dosen nicht dort, wo extreme Meinungen vertreten oder bizarre "eigene Fakten" verbreitet werden - sondern dort, wo organisierte, zielgerichtete und auf strategischer Desinformation beruhende Menscheneindlichkeit den Meißel an die Stützpfeiler des Grundgesetzes setzt.

    Wer wirklich die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte komplett ignorieren will (ein nicht nur anekdotischer Bezug auf eine 60 Jahre alte Studie - echt jetzt?), der werfe im Jahr 2023 den Scheinwerfer immer noch auf "Cancel Culture", statt auf die strukturelle Kombination einer zunehmenden Fragmentierung (Aufgeregtheit belohnender) Informationsmärkte und deren Flutung mit (Aufgeregtheit gezielt schürender) Polemik und Desinformation.

    Nicht, dass ich darauf Antworten hätte ... aber dem Autor fehlen nicht nur die Antworten - er stellt völlig von der Realität überholte Fragen.

  • Zur Erinnerung: taz.de/Strafe-fuer...Kuerzung/!5520585/

    Und dennoch: wen ein Mensch rassistische Dinge sagt, dann habe ich auch das Recht dazu (die Pflicht, vielleicht?) zu sagen, dass es rassistische Dinge sind. Das ist nicht cancel culture.

  • Wäre schön, wenn Herr Schröder den Bogen der Wilhelminischen Zeit über die Nazidiktatur weitergesponnen hätte zum Thema. Nämlich in West- und Ostdeutschland, wo die Diktatur ja noch bis 1989 gedauert hat. Das hatte entsprechend im Essay formulierte Auswirkungen. AfD Erfolg als Erscheinung einer 'osdeutschen' Pubertät sozusagen. Legt sich wieder, dauert noch.

  • Es hat lange, zu lange gedauert, bis man derartig klare Worte über „Cancel Culture“ in der TAZ lesen konnte. Solange sich diese Attitüde als Links darstellen kann, solange wird Links abschreckend wirken.