Konflikt im Südkaukasus: Der eingefrorene Krieg
Mit der vereinbarten Waffenruhe in Bergkarabach muss Armenien wichtige Territorien räumen. Aserbaidschan feiert sich als Gewinner.
Aserbaidschan jubelt. Tausende Menschen tanzen auf den Straßen und Plätzen in Baku, Ganja und anderen Städten. Freunde und Fremde, alle Hand in Hand. Hupend fahren Menschen in größeren Autokorsos durch die Städte und rufen: „Karabach ist Aserbaidschan.“ Sie feiern ihren Sieg in Bergkarabach.
In Armenien hingegen macht sich in der Nacht zu Dienstag Zorn und Enttäuschung breit. In der Hauptstadt Jerewan stürmen Tausende Demonstranten das Regierungsgebäude und das Parlament. Sie durchsuchen Büros, schlagen Fenster ein. Parlamentssprecher Ararat Mirzojan wird bei einem Angriff fast zu Tode geprügelt. Er liegt jetzt im Krankenhaus.
„Wo ist der Verräter?“, schreien Tausende wütende Demonstranten in Jerewan. Sie sind auf der Suche nach Premierminister Nikol Paschinjan. Der hatte wenige Stunden zuvor verkündet, er habe mit Aserbaidschan und Russland eine Waffenstillstandsvereinbarung unterzeichnet, um die Kämpfe um Bergkarabach zu beenden.
Laut der Vereinbarung, deren Umsetzung russische Friedenstruppen absichern sollen, verliert Armenien die Kontrolle über alle sieben Regionen, die Bergkarabach umgeben. Davon ausgenommen ist der „Laschinkorridor“ auf einer Breite von fünf Kilometern, der Armenien mit Bergkarabach verbindet. Auch die Stadt Schuschi (aserbaidschanisch: Schuscha) ist nicht von dieser Regelung tangiert, was den Schluss zulässt, dass ein Teil von Bergkarabach künftig von Aserbaidschan kontrolliert wird. Über den Status von Bergkarabach schweigt sich die Vereinbarung aus. Zudem muss Armenien eine Verbindung zwischen den westlichen Regionen Aserbaidschans und der aserbaidschanisch besiedelten autonomen Region Nachitschewan sicherstellen, die auch an die Türkei grenzt und zu der Aserbaidschan bisher keinen direkten Zugang hat.
Der Territorialkonflikt schwelt seit über 30 Jahren
Seit dem 27. September toben heftige Kämpfe um die Region Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan. Nach Angaben aus Bergkarabach wurden auf armenischer Seite seither 1.297 Soldaten getötet. Aserbaidschan nennt dazu bislang keine Zahlen.
Der Territorialkonflikt um das heute von Armenier*innen bewohnte Gebiet, das zu Sowjetzeiten der Teilrepublik Aserbaidschan zugeordnet worden war, schwelt seit über 30 Jahren. Ein Krieg Anfang der 1990er Jahre, in dem unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 25.000 und 50.000 Menschen getötet und über 1,1 Millionen vertrieben wurden, mündete 1994 in einen brüchigen Waffenstillstand. Seitdem bemüht sich die Minskgruppe der OSZE, der neben Russland auch die USA und Frankreich angehören, darum eine Friedenslösung auszuhandeln.
Im Zuge des jüngsten Krieges gewannen aserbaidschanische Truppen, die von der Türkei unterstützt werden, zusehends die Oberhand. Sie nahmen immer neue Dörfer und Städte ein. Vor wenigen Tagen fiel die strategisch wichtige Stadt Schuschi im Herzen von Bergkarabach – für Armenien eine katastrophale Niederlage. Nach derzeitigem Stand hat Aserbaidschan die Mehrheit der um Bergkarabach herumliegenden Regionen erobert und das international nicht anerkannte Gebiet Bergkarabach praktisch halbiert.
Armenien steht jetzt nicht nur vor einem politischen Chaos, sondern auch vor einer humanitäre Katastrophe. In Bergkarabach lebten vor dem Ausbruch der jüngsten Kämpfe etwa 150.000 Menschen. Die Mehrheit ist nach Armenien geflohen. Nur die Männer sind noch an der Front. Unterkünfte für Flüchtlinge sind Mangelware und die Menschen komplett auf die Hilfe von Freiwilligen angewiesen. In den Kliniken sind alle Betten mit verletzten Soldaten belegt.
In den sozialen Medien bricht sich der Volkszorn Bahn
Ziel von Hass und Verbitterung ist quasi über Nacht Nikol Paschinjan geworden, der 2018 durch die Samtene Revolution an die Macht kam. Obwohl er die absolute Mehrheit im Parlament hat, hat er keine politischen Verbündeten. 17 Oppositionsparteien fordern seinen Rücktritt. Unter den Parteien, die die Erklärung unterzeichneten, sind Gruppen wie „Blühendes Armenien“, die Republikanische Partei des ehemaligen Präsidenten Sersch Sargsjan sowie die Armenian Revolutionary Federation Daschnaktsutjun, die bis zum Machtwechsel 2018 an der Regierung beteiligt waren.
In einer ersten Stellungnahme machte Paschinjan auch Korruption und Vetternwirtschaft in den Vorgängerregierungen für die Niederlage in Bergkarabach verantwortlich. „Wir müssen bereit sein, Rache zu üben. Wir haben uns nicht richtig mit den korrupten, oligarchischen Schurken befasst, mit denen, die dieses Land ausgeraubt, das Essen und die Waffen der Soldaten gestohlen haben“, sagte Paschinjan.
Der Präsident der Region Bergkarabach, Arayik Harutjunjan, erklärte, er habe seine Zustimmung zur Beendigung des Krieges gegeben, um weitere Opfer und den vollständigen Verlust von Bergkarabach zu vermeiden.
Auch in den sozialen Medien bricht sich der Volkszorn Bahn. „Die Russen haben uns wieder an die Türken verkauft“, lautet der Tenor vieler Einträge – ein Hinweis auf die aserbaidschanische Autonome Republik Nachitschewan. Dahinter sehen viele Armenier das Gespenst des türkischen Panturkismus: Die Türkei werde jetzt einen direkten Zugang zu seinem Verbündeten Aserbaidschan bekommen. Das aber bedeute, dass auch die Souveränität Armeniens bedroht sei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen