Konferenz zur Klimaneutralität: Indien geht auf Konfrontationskurs
Die internationale Klimadiplomatie kommt immer wieder zu der Frage zurück, vor der sich vor allem die reichen Länder gern drücken: Was ist gerecht?
Die USA wollen in dem Zeitraum CO2-neutral werden – gleiches Prinzip, aber eben nur auf das Treibhausgas Kohlendioxid bezogen, nicht etwa auch schon auf Methan und Lachgas. China will an diesen Punkt zehn Jahre später kommen, also 2060.
Auf einer virtuellen Konferenz der Internationalen Energieagentur am Mittwoch hat Indien diese Herangehensweise nun kritisiert: Zu vage findet der indische Energieminister Raj Kumar Singh diese langfristigen Ziele, wie er in einer Gesprächsrunde mit Vertreter:innen mehrerer Länder sagte.
„Wir hören von Ihnen, dass Ihre Länder 2050 oder 2060 klimaneutral werden wollen – aber 2060 ist weit weg“, wandte er sich vor allem an den US-Klimabeauftragten John Kerry, EU-Klimakommissar Frans Timmermans und Chinas Energieminister Zhang Jianhua.
Eine Frage der Fairness
„Was Sie in den nächsten fünf Jahren machen, das wollen wir wissen“, sagte Singh ungewöhnlich scharf für einen informellen Gipfel, bei dem es mehr um Austausch als um konkrete Verhandlungen geht.
Auch Wissenschaftler:innen mahnen an, dass bisher nicht plausibel ist, wie die hehren Langfristziele erreicht werden sollen. „Wir sehen die Emissionen noch bis nach 2030 steigen, was die Regierungen nicht auf den richtigen Pfad für ihre ambitionierten Klimaneutralitätsversprechen bringt“, sagte Bill Hare vom Thinktank Climate Analytics im Dezember bei der Vorstellung einer ensprechenden Analyse. „Die kurzfristigen Ziele sind nicht ein bisschen, sondern total auf Abwegen.“
Bei Singhs Aussagen schwingt auch mit, dass Indien selbst unter Druck steht zu benennen, wann es die Emissionen netto auf null senken, also klima- oder CO2-neutral werden will.
Zu Beginn der Konferenz rief Alok Sharma, den die britische Regierung zum Präsidenten der nächsten Weltklimakonferenz in Glasgow ernannt hat, alle Länder dazu auf, „sich der Netto-Null-Welt zu verpflichten“.
Singh argumentierte, dass eine solche Anforderung für Entwicklungsländer unangemessen sei, weil sie zur Klimakrise weniger beitragen. An die Vertreter:innen der reicheren Länder gewandt sagte er: „Sie haben Länder, die den weltweiten Durchschnitt bei den Emissionen pro Person um das vier-, fünf-, sechs- oder zwölffache übersteigen.“
Unter dem Kyoto-Protokoll, dem Vorgänger des aktuell gültigen Pariser Weltklimaabkommens, gab es auch formell die Unterteilung in Industrie- und Entwicklungsländer. Nur erstere waren zum Klimaschutz verpflichtet, letztere lediglich dazu angehalten.
Die Begründung: Erstens haben reiche Länder im globalen Norden den Klimawandel hauptsächlich verursacht und zweitens haben sie mehr Geld, um Maßnahmen dagegen zu ergreifen.
Diese strikte Trennung haben die Staaten mit dem Paris-Abkommen größtenteils aufgehoben – unter anderem, weil die Trennlinien bei den Emissionen und den finanziellen Ressourcen in einigen Fällen verschwimmen.
China etwa ist längst der größte CO2-Emittent, wenn auch nur in absoluten Zahlen, nicht pro Einwohner:in. Und Katar hat das zweitgrößte Pro-Kopf-Einkommen auf der Welt. Trotzdem gelten beide als Entwicklungsländer.
Kriterien dazu, welches Land wie viel zum internationalen Klimaschutz beitragen muss, liefert das Paris-Abkommen nicht. Deshalb flammt der Streit darüber immer wieder auf.
Ein globales CO2-Budget fehlt
Er ist zuweilen diffus, weil sich die Staaten noch nicht einmal darauf geeinigt haben, wo die 100-Prozent-Marke beim Klimaschutz liegt. Sprich: Wie viel Risiko man in Kauf nehmen will, bei einem katastrophalen Klimawandel über 1,5 Grad oder zwei Grad Erderhitzung zu landen – und wie viel Treibhausgas entsprechend noch insgesamt in die Atmosphäre gelangen darf.
Berechnungen für verschiedene Szenarien mit unterschiedlichem Risiko gibt es zum Beispiel vom Weltklimarat IPCC, aber entscheiden muss sich die Politik. Solange wird zwangsläufig darüber diskutiert, wie man ein Budget aufteilt, das noch gar nicht bestimmt ist.
Bislang setzen die meisten Staaten statt auf mengenbasierte Ziele eben auf Zeitmarken, zum Beispiel die Klimaneutralität in einem bestimmten Jahr. „Wenn Sie bis dann noch wie jetzt weiter emittieren, überlebt das die Welt nicht“, warf Singh seinen Gesprächspartner:innen vor.
Je nachdem, wie die Kurve der Emissionsreduktion bis zur Klimaneutralität aussieht, kann das schließlich sehr unterschiedliche Mengen an Treibhausgas bedeuten. Die Jahreszahl ist für sich genommen also nicht sehr aussagekräftig.
In der Europäischen Union ist diese Diskussion angekommen. Dort verhandeln das Parlament und der Rat der EU-Regierungen gerade über ein neues Klimagesetz. Das soll die Klimaneutralität im Jahr 2050 in die Umsetzung bringen – also genau von dem vagen Versprechen wegbringen, das Singh kritisiert.
Das EU-Parlament drängt darauf, zumindest ab dem Zwischen-Klimaziel für 2040 einen Budget-Ansatz zu verfolgen. Der Ministerrat sperrt sich in der Frage bisher.
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