Kommunalwahlen in Großbritannien: Oh dear, es wird gewählt
In Englands wichtigsten Städten finden Lokalwahlen statt. Wie hoch ist der Zulauf für Labour wirklich, wie tief ist die Krise der Tories?
Hintergrund solcher Schlagzeilen ist die Tatsache, dass am Donnerstag in 107 englischen Kreisen und zehn Großstadtgebieten Kommunalwahlen abgehalten werden, insgesamt etwa ein Drittel des Landes. Zusätzlich werden neue Polizeikommissare gewählt und im südlichen Teil der Küstenstadt Blackpool gibt es außerdem eine parlamentarische Nachwahl, weil der bisherige konservative Abgeordnete Scott Benton zurückgetreten ist. Es scheint unwahrscheinlich, dass die Tories den Sitz halten können.
Außerdem geht es um die Bürgermeisterämter in London, im Großraum Manchester, Liverpool und York aber auch für Großregionen wie East Midlands, West Midlands und jeweils für den Süden, Norden und Westen von Yorkshire.
Ein besonders schlechtes Ergebnis für die Tories könnte eine reale Gefahr für Premierminister Rishi Sunak darstellen und den Startschuss für ein neues innerparteiliches Ringen um die konservative Parteispitze abgeben.
Im Fokus: Sadiq Khan, Labour-Bürgermeister von London
Das größte Amt, das am Donnerstag zur Wahl steht, ist der Posten des Bürgermeisters von London; auch Londons Stadtparlament wird neu gewählt. Hier geht es um Verkehrspolitik, Wohnungspolitik, die Aufsicht über die umstrittene Polizei und andere gesamtstädtische Belange.
Als Amtsinhaber Sadiq Khan 2016 für Labour von den neun Millionen Londoner:innen gewählt wurde, war er der erste muslimische Bürgermeister einer Großstadt in der westlichen Welt. Als solcher verfügt er über einen jährlichen Etat von umgerechnet 25,5 Milliarden Euro. 2021 wurde er wiedergewählt, nun will er es ein drittes Mal versuchen.
Da anders als bei den vorherigen Wahlen keine Zweit- und Drittoption auf den Stimmzetteln angegeben werden kann, die dann umverteilt wird, sondern einfach der Kandidat mit den meisten Stimmen gewinnt, ist Khans Wiederwahl weniger sicher, als es scheinen könnte angesichts des seit Monaten andauernden Umfragehochs von Labour landesweit.
Zwar gilt Khan mit 13 Prozent Vorsprung vor der konservativen Kandidatin Sue Hall als klarer Favorit, aber Labour-Genossen verteilten in den letzten Tagen eifrig Wahlinfo, auf der nicht mal mehr der Name von Khan steht. Stattdessen steht da: „Die Wahl wird eng werden, riskiere keine Tory-Bürgermeisterin.“
Ein Labour-Unterstützer reckte am Mittwoch morgen sogar ein großes „Vote Labour“-Plakat an einer zentralen Straßenkreuzung der Londoner Innenstadt in die Höhe. Derartiges Benehmen im Namen von Labour ist ungewohnt.
Khan verwies bei zwei Wahlveranstaltungen auf 28.000 im Bau befindliche Wohnungen – das größte Sozialwohnbauprogramm seit den 1970er Jahren, wie er sagte. Wird er ein drittes Mal Bürgermeister, sollen bis 2030 weitere 40.000 Wohnungen entstehen. Laut seines eigenen Amtes ist das aber immer noch zu wenig, denn London bräuchte pro Jahr über 60.000.
Auf der Wahlpost, die dieser Tage in Londoner Briefschlitze gestopft wird, stehen als zu bewahrende Errungenschaften auch das Niedrighalten der Tarife im öffentlichen Verkehr und die Ausweitung kostenloser Schulmahlzeiten für alle Grundschulkinder Londons.
Außerdem rühmt Khan seine Verkehrsmaßnahmen, etwa Tempo 20 (in Meilen) auf vielen Londoner Hauptstraßen und die Erweiterung der Umweltzone auf alle Außenstadtbezirke. Das sei, anders als von den Konservativen behauptet, eine Maßnahme der Gerechtigkeit, da es Menschen vor Luftverschmutzung schone.
Sollte er jetzt wiedergewählt werden und Labour später die Regierung in Großbritannien übernehmen, könne er noch viel mehr erreichen, behauptet Khan, denn bisher gab es immer Zoff zwischen der konservativen Regierung in Westminster und dem Bürgermeisteramt ein paar Kilometer entfernt.
Die Konservative Sue Hall hingegen will die Umweltzonenerweiterung und Geschwindigkeitsdrosselungen wieder rückgängig machen. Aus ihrer Sicht ist die Umweltzone sozial ungerecht – wer 12,50 Pfund (14,50 Euro) am Tag zahlt, kann weiter mit älteren Fahrzeugen mit hohem Schadstoffausstoß herumfahren.
Die Politisierung der Umweltzonenerweiterung vermasselte vergangenes Jahr spektakulär den erwarteten Labour-Erfolg bei der Nachwahl in Boris Johnsons ehemaligem Wahlkreis Uxbridge and South Ruislip.
Doch das Thema scheint insgesamt nicht genug Londoner:innen aufzuregen. Andere Probleme – etwa Fahrradwege, die an Bushaltestellen zur Gefährdung von Behinderten führen – interessieren wiederum die großen Parteien nicht. Zu einer Veranstaltung des Behindertenverbandes Inclusion London darüber bemühte sich von allen Kandidaten einzig die grüne Bürgermeisterkandidatin Zoë Garbett, zur Verärgerung aller Anwesenden.
Als Hauptthema nannten in einer Umfrage 52 Prozent der Londoner:innen die Sicherheit. Londons Polizei taumelt von einem Skandal zu nächsten, insbesondere seit der Entführung, Vergewaltigung und Ermordung von Sarah Everard durch einen einschlägig bekannten, aber im Dienst belassenen Polizeibeamten 2021 sowie rassistischen Vorfällen und darauffolgenden Untersuchungsberichten. Nach schwerer Kritik durch Khan trat Polizeichefin Cressida Dick 2022 zurück.
Der neue Polizeichef Mark Rowley versprach Reformen, die Khan, sollte er nochmals Bürgermeister werden, als seine zentrale Aufgabe versteht. Er will 1.300 neue Polizeibeamte einstellen – Sue Hall bietet sogar 1.500. Sie sollen auch, anders als bisher, verschärft gegen Ladendiebstähle und Messerstechereien vorgehen. Dabei glaubt Khan, dass derartige Probleme nicht nur Aufgabe der Polizei sind, sondern auch eine Frage der von der Regierung radikal gekürzten Sozialdienste für Jugendliche.
Ein Labour-Hauptargument ist ein Zitat aus dem Guardian ausgerechnet vom 7. Oktober 2023, wonach die meisten Londoner:innen die Konservative Hall für eine Rassistin halten. In Wahrheit griff Hall Khan zwar immer wieder politisch an, verteidigte jedoch seine Person als Muslim.
In sozialen Medien fanden einige jedoch Likes von ihr hinter rechten Posts, darunter einer, der Khan als Bürgermeister von „Londonistan“ beschreibt. Außerdem behauptet sie, jüdische Londoner seien durch Khan verängstigt.
Tories in Birmingham und Teeside zuversichtlich
Und außerhalb Londons? In Manchester dürfte Labours Andy Burnham ebenfalls zum dritten Mal Bürgermeister werden, er genießt breites Ansehen, weil er während der Coronapandemie von der konservativen Regierung zusätzliche Ressourcen für den Umgang mit den Lockdowns in Manchester errang.
In den West Midlands, dazu gehört auch Großbritanniens zweitgrößte Stadt Birmingham, will Labours Kandidat Richard Parker den konservativen Bürgermeister Andy Street ablösen. Während Parker Wahlhilfe durch Labour-Chef Keir Starmer erhielt, ließ Rishi Sunak Street im Regen stehen.
Der Grund mag Streets Unterstützung von Liz Truss beim Kampf um Boris Johnsons Nachfolge 2022 sein. Dennoch liegt Street derzeit leicht vorne: Seine Wiederwahl wäre für die Konservativen landesweit ein wichtiger Erfolg.
In Teeside an der Nordsee im Nordosten Englands dürfte der konservative Bürgermeister Ben Houchen noch bessere Aussichten auf eine Wiederwahl haben. Die Konservativen machten Teeside zur Vorzeigeregion von Johnsons Aufbauprogramm „Levelling Up“ für abgehängte ehemalige Industriegebiete.
Teeside protzt heute mit Freihafen, Flughafen und Großinvestitionen in Offshore-Windenergie. Sollten die Tories hier verlieren, würden die Geier über Rishi Sunak herziehen, so beschrieb es der Chef des Meinungsinstitutes Savanta, Chris Hopkins.
Populistische Konkurrenz von links
Street und Parker haben in Birmingham einen interessanten Konkurrenten: den Lamborghini-fahrenden Rechtsanwalt Akhmed Yakoob. Der parteilose Kandidat, dessen Kampagne vor allem in sozialen Medien läuft, behauptet ähnlich wie der Linkspopulist George Galloway, dass eine Stimme für ihn eine Stimme für Palästina sei, und hofft auf Zustimmung unter der muslimischen Bevölkerung und Studierenden „für eine Revolution“.
Galloway hatte auf diese Weise im Februar bei einer Nachwahl den Parlamentssitz Rochdale geholt, Nachahmer wie Yakoob gibt es jetzt auf kommunaler Ebene einige.
Im nordenglischen Bradford, dessen Bevölkerung zu 30 Prozent muslimisch ist, hat sich eine ganze Gruppe von 14 unabhängigen Kandidat:innen zusammengeschlossen, mit Gaza als gemeinsamem Nenner.
Unter ihnen ist der von den Liberaldemokraten wegen Antisemitismus aus der Fraktion geworfene Unterhausabgeordnete David Ward, der sich auf Facebook mit „From the River to the Sea“-Plakat zeigt. Nick Peterken, ein ehemaliger konservativer Kandidat, der wegen Betrugs nicht mehr als Anwalt arbeiten darf, gehört ebenfalls zu den vierzehn. Auf Flugblättern wirbt er mal für „weiße Gegenden“ und gegen die Aufnahme von Flüchtlingen, auf anderen appelliert er an Muslime, für seine „saubere Seele“ zu stimmen.
„Ich hoffe, dass dieser Galloway-artige Opportunismus scheitert“, erklärt eine Wählerin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin