Kommunalwahl in Großbritannien: Starke Einbußen für Tories
Labour gewinnt viele Sitze. Die Hoffnungen auf einen baldigen Machtwechsel auf nationaler Ebene könnten aber verfrüht sein.
„Es war eine schlimme Nacht!“, gestand John Mallinson, der in Carlisle seit 22 Jahren konservativer Kommunalrat ist, gegenüber der BBC. Beim Wahlkampf wäre er auf „viel Ablehnung von Boris Johnson gestoßen“, vor allen beim Umgang mit der Wahrheit und den gestiegenen Lebenshaltungskosten. Er erwarte nun, dass durch ein parteiinternes Misstrauensverfahren das Thema Boris abgehakt werde.
Auch im nordöstlichen englischen Wahlkreis Sunderland, wo Labour seine bisherige Mehrheit verteidigen konnte, verwies der dortige konservative Parteiführer Anthony Mullen sauer auf Johnsons „Partygate“. Auch im Süden Englands legte Labour zu und eroberte die Hafenstadt Southampton.
Doch so mancherorts waren es die Liberaldemokrat:innen, die den Torys wie Labour einstige Mehrheiten kostete, so etwa im nordöstlichen Hull und Kingston-upon-Hull und erstaunlicherweise sogar in der Grafschaft West-Oxfordshire. Das war der Wahlkreis des früheren konservativen Premiers David Cameron.
Tories verlieren das seit 1964 gehaltene Westminster
Die größten und von vorneherein prophezeiten Niederlagen verbuchten die Torys in London. So holte sich Labour das von Thatcher einst geliebte Wandsworth im Süden Londons zum ersten Mal seit 1978. Simon Hogg, der dort triumphierende Labourführer, erklärte: „Es ist nun auch an der Zeit für einen Führungswechsel an der Spitze der Regierung.“
Noch verheerender für die Torys war der Verlust des Westminster-Wahlkreises an Labour. Den hielten die Konservativen seit 1964. Rot wurde auch wieder der Londoner Bezirk Barnet mit seiner etwa zwanzigprozentigen jüdischen Bevölkerung. Das zeigt, dass die dortigen Wähler:innen die Maßnahmen von Labourführer Keir Starmers gegen den Antisemitismus in seiner Partei für glaubwürdig halten.
Auch die Grünen konnten immer wieder Erfolge verbuchen, in Richmond wurden sie gar zur kleinen und dennoch offiziellen Oppositionskraft.
Zwar gewannen die Konservativen noch in Hillingdon, der Gegend Londons, wo Boris Johnson Abgeordneter für Uxbridge ist. Doch verloren sie vier Sitze, die alle an Labour gingen. Im Londoner Bezirk Havering besiegte die von Gillian Ford geführte Bürgervereinigung die Torys mit zwei zusätzlichen Sitzen und einer Mehrheit von 21 Stadträten die Tories.
Wahlanalyst: Labour hat noch viel Arbeit vor sich
Viele Labourvertreter:innen behaupten, dass sie nun bei der nächsten Nationalwahl die Tories schlagen können. Doch der angesehenste Wahlanalyst des Landes, John Curtice, warnte vor Kurzschlüssen. Um eine landesweite Wahl zu gewinnen, reiche das Ergebnis nicht. Es sei schlecht für die Tories, aber Labour habe noch viel Arbeit vor sich, behauptete er.
Der Parteichef der Konservativen, Oliver Dowden, wies am Freitagmorgen Kritik zurück und lobte stattdessen Johnsons „kühnen Stil“ im Ukrainekrieg. Ergebnisse aus Schottland, Wales und Nordirland lagen zunächst noch nicht vor. Die Wahlbeteiligung lag bei durchschnittlich 30 Prozent.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
FDP-Krise nach „Dday“-Papier
Ex-Justizminister Buschmann wird neuer FDP-Generalsekretär
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Selenskyj bringt Nato-Schutz für Teil der Ukraine ins Gespräch
Überraschende Wende in Syrien
Stunde null in Aleppo