Kommentar von Marthe Ruddat über die Pflicht zur Hilfe: Ein selbst geschaffenes Problem
Als ich das erste Mal davon gehört habe, dass es Pläne gibt, medizinisches Personal zur Arbeit verpflichten zu können, hat das bei mir vor allem Wut und Angst ausgelöst.
Vor sechs Jahren habe ich meinen Beruf als Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin aufgegeben, nach drei Jahren Ausbildung und drei Jahren Arbeit auf der Intensivstation für Frühgeborene. Mir war von Anfang an klar, dass ich diesen Job nicht für immer machen möchte. Nach den sechs Jahren war ich durch. Schichtdienst, Arbeit am Wochenende und an Feiertagen, Überstunden, Anrufe an freien Tagen, ob ich einspringen kann.
Ob morgens um zehn oder nachts um zwei, ob es der vierte Nachtdienst in Folge ist, man wegen des gestörten Biorhythmus kaum geschlafen hat oder sich trotz Kopfschmerzen auf die Arbeit geschleppt hat, um kein Loch in den Dienstplan zu reißen – man muss funktionieren. Es hängt schließlich die Gesundheit anderer davon ab. Die eigene bleibt da schnell auf der Strecke.
Und obwohl ich diesen Beruf wirklich gern und auch gut gemacht habe, wollte ich das nicht mehr. Und jetzt soll man mich zwingen können zurück zu kommen? Ich würde mich mit allen Mitteln wehren.
Denn dass überhaupt die Möglichkeit besteht, dass unser Gesundheitssystem an seine Grenzen stößt, ist ein von denen gemachtes Problem, die jetzt andere dazu zwingen wollen, das auszubaden. Das System wurde den Mechanismen des Marktes überlassen. Und da zählen Zahlen, nicht die Menschen, nicht die Gesundheit. Die Konsequenzen tragen die, die in dem System arbeiten, und die Patient*innen. Das lässt sich durchaus wieder ändern, auch wenn niemand behauptet, dass das einfach ist. Zwang ist dabei das am wenigsten hilfreiche Mittel.
Statt die wirklichen Probleme anzugehen, werden aber lieber Eingriffe in die Grundrechte von Menschen geplant. Wie sollen Menschen, die gar nicht in dem Beruf arbeiten, aber dann zur Arbeit gezwungen werden, einen guten, verlässlichen Job machen? Der Zwang kann auch dafür sorgen, dass sich überhaupt weniger Menschen entscheiden, einen medizinischen oder pflegerischen Beruf zu wählen.
Der Fachkräftemangel herrscht auch, weil Menschen den Beruf verlassen, weil sie es nicht mehr aushalten, in dem jetzigen System zu arbeiten. Viele haben sich trotzdem freiwillig gemeldet, um in der Krise zu helfen. Auch wenn das nicht für mich gilt: Andere können sich vorstellen, in ihren Beruf zurück zu kehren. Das Hamburger Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus hat vor kurzem eine Kampagne gestartet: „Ich komme wieder wenn“. Da schildern Pflegekräfte, unter welchen Umständen sie zurückkehren oder ihre Stellenanteile erhöhen würden. Eine Frau schreibt: „Wenn meine Empathie und Solidarität nicht mehr ausgebeutet wird“, eine andere: „Würde gerne mehr, aber die Belastung ist nicht tragbar.“ Was sich ändern muss, ist schon lange klar.
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