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Kommentar von Georg Löwischzu Europa nach dem BrexitFrieden und Freizügigkeit

Die EU braucht ein neues identitätsstiftendes Projekt, das viele bindet

Wozu ist die EU da? Für den Frieden, hat Angela Merkel nach dem Ja zum Brexit gesagt. Wir sollten nie vergessen, mahnt die deutsche Kanzlerin, „dass die Idee der europäi­schen Einigung eine Friedensidee war“.

Die Gefahr, dass dies jemand vergisst, ist gering. Weil Merkel es gern mal sagt, wenn die EU vor schwierigen Entscheidungen steht. Der Frieden ist ihre Begründung dafür geworden, dass andere mitmachen, was sie für alternativlos hält. Die Friedensidee ist Merkels Krisenidee.

Was stimmt: Der Frieden ist das Urversprechen der europäischen Einigung. 1946, ein Jahr nachdem die Hölle des Zweiten Weltkriegs vorbei war, sagte der britische Premier Winston Churchill, nur eine Art Vereinigte Staaten von Europa könne den Frieden bringen.

Mit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Vorgängerin der EU, wurde die Vision zum Versprechen. Es ist gehalten worden, und es war gut, dass es immer wieder erneuert und eingefordert wurde. „Le nationalisme, c’est la guerre“, sagte Frankreichs Präsident François Mitterrand 1995: Nationalismus bringt den Krieg. Seine Rede war ein starkes, ein wichtiges Plädoyer.

Aber wenn Merkel jetzt das Friedensversprechen aufruft, wirkt das wie ein hilfloser Reflex. Sie hat nichts anderes. Im Jahr 2016 fehlen der EU Projekte, die sie verbinden, und Ideen, die der Gemeinschaft Sinn stiften. Das zweite große Versprechen, der wirtschaftliche Wohlstand, ist diskreditiert. Es gilt für zu wenige: für die Länder des Nordens und selbst dort nur für einen Teil der Bevölkerung. Und weil der Euro mit nervtötender Regelmäßigkeit gerettet werden muss, ist auch das Ideal wirtschaftlicher Stabilität arg ramponiert.

Merkel weiß das, deshalb erklärt sie den Sinn der EU damit, dass der Zusammenschluss der Staaten eine globale Macht bilde. Nur leider vermag diese Macht nichts gegen weltweite Zockerwirtschaft und Geldversteckerei auszurichten. Sie zwingt nicht einmal Konzerne wie Google oder Ikea dazu, der Gemeinschaft mehr als ein Taschengeld vom Gewinn abzugeben.

Europa kann zu wenig vorzeigen. Es begeistert nicht. Es bindet nicht. So bleibt allein der Frieden. Ja, Frieden ist sehr viel. Aber sieben Jahrzehnte nach 1945 ist er vielen zu wenig. Sie sagen sich, dass die Vereinigten Staaten von Amerika letztlich die Sicherheit der uneinigen Staaten Europas garantieren.

Deshalb muss die EU ein neues identitätsstiftendes Projekt fokussieren, das außerhalb des Brüsseler Kommissionsgebäudes Bestand hat. Und das muss nicht einmal neu erfunden, sondern nur gesehen und gestärkt werden.

Wozu also ist Europa da? Mehr Gerechtigkeit tut not. Aber wer denkt, dass sich die Brüsseler Gipfel in den nächsten Jahren zu einer Art Sozialistischer Internationale entwickeln, sollte sich lieber ein Märchenbuch kaufen.

Ein aussichtsreicheres Projekt ist die europäische Freizügigkeit, die mehr ist als Reisefreiheit: das Recht, innerhalb der Union zu leben, zu arbeiten, zu lernen, sich zu engagieren und alt zu werden, wo man will. Es ist ein Versprechen, das schon gelebt wird. Es ist der Grund, warum so viele Junge in Großbritannien gegen den Brexit gestimmt haben.

Doch gut sieht es nicht aus für die Freizügigkeit. Die entsolidarisierte Staatengemeinschaft hat auf die Flüchtlinge mit neuen innereuropäischen Grenzen reagiert. Das schrankenlose Europa hat sich wieder eingeschränkt. Die Wilders’, Straches, Le Pens und Petrys greifen das offene Europa an. Längst geht die Geld-Neid-Angst-Debatte europäischer Na­tio­na­lis­ten auch gegen andere Europäer. Seit Bulgarien und Rumänien in der EU sind, sinniert der deutsche Populismus darüber, wie die Neuen von der Arbeitslosenversicherung ferngehalten werden können.

Die bornierten Gegner der Freizügigkeit unterschätzen, wie viele von ihr profitieren. Der Studierende, der es genießt, zwischen den Sprachen, Städten und Stimmungen zu wechseln. Die Akademikerin, die im Hochgeschwindigkeitszug zwischen den Orten und Aufgaben pendelt. Der Bauarbeiter, der monatsweise in boomenden Städten arbeitet und dann wieder zu Hause. Oder die deutsche Ruheständlerin, die in Portugal mit ihrer Rente besser leben kann.

Die Freizügigkeit ist für viele so wichtig, dass die Debatte über sie gewonnen werden kann. Wenn sich erst einmal ­herumgesprochen hat, dass innereuropäische Einwanderung guttut, dann ist vielleicht bald eine Mehrheit für die Öffnung Europas nach außen.

Jetzt geht es erst einmal darum, wie die Verhandlungen über das künftige Verhältnis der EU zu Großbritannien geführt werden: pragmatisch und besonnen – oder mit der Peitsche, um Nachahmer abzuschrecken. Die größte Härte, die Europa den britischen Nationalisten antun kann, ist die Freizügigkeit. Wer mit der EU zu neuen Deals kommen will, sollte Bescheid bekommen, dass sie nicht verhandelbar ist.

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