Kommentar Wahl Türkei: Erdoğan weiter auf Chaoskurs
Der Angstwahlkampf der AKP hat sich ausgezahlt. Für die neue Regierung gibt es keinen Grund, nun zum Frieden zurückzukehren.
R ecep Tayyip Erdoğan ist zurück, die Opposition am Boden zerstört. Am Tag nach dem Erdrutschsieg der AKP triumphieren die Anhänger des Präsidenten, und die Gegner Erdogans sind geschockt. Wie hatte das passieren können, wo doch alle Umfragen im Vorfeld der Wahl darauf hingedeutet hatten, dass die AKP von einer absoluten Mehrheit erneut weit entfernt ist?
Die Antwort auf diese Frage wird wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen - nicht zuletzt die Demoskopen müssen sich fragen, wie sie so daneben liegen konnten. Fakt aber ist: Der Angstwahlkampf der AKP hat sich ausgezahlt.
Das Chaos, das die die AKP geschürt hat, hat paradoxerweise dazu geführt, dass die Mehrheit der Wähler die gleiche gewählt hat, damit diese das Chaos auch wieder beendet. Die AKP hat das Klima vergiftet, nun soll sie endlich Ruhe schaffen. Nach mehr als zwei Jahren Dauerstress mit einem Wahlgang nach dem anderen hatten die Leute offenbar die Nase voll vom Machtkampf und haben Erdoğan gegeben, was dieser wollte. Seine „Neue Türkei“ wird jetzt nicht mehr aufzuhalten sein, insofern ist dieser Sieg historisch. Der Wechsel zum Präsidialsystem wird kommen, eher früher als später.
Eine ausschlaggebende Rolle dabei dürfte gespielt haben, dass die Opposition keine Machtalternative anzubieten hatte, jedenfalls keine, bei der die AKP durch eine neue Regierung ersetzt worden wäre. Dazu hätten so unterschiedliche Parteien wie die sozialdemokratische CHP, die kurdisch-linke HDP und die ultranationalistische MHP zusammengehen müssen, was inhaltlich kaum möglich ist. Die MHP will den Krieg gegen die Kurden und die PKK, da kann sie natürlich nicht mit der HDP zusammenarbeiten. Für CHP und die HDP allein aber reicht es so wenig wie für Rot-Grün in Deutschland. Wie in Berlin ohne die CDU nichts läuft, geht in der Türkei nichts gegen die AKP.
Hätte die AKP aber wieder keine absolute Mehrheit bekommen, wäre nur eine Koalition mit der CHP in Frage gekommen, die Präsident Erdoğan, der de facto Chef der Partei, aber nicht will. Die Folge davon wären weiterer Stress, weiteres Chaos, weiterer Terror gewesen – vor dieser Aussicht haben viele Leute enorme Angst gehabt.
Für viele Jahre dürfte in der Türkei nun erst einmal Friedhofsruhe einkehren, mit einer Ausnahme: der Krieg in den kurdischen Gebieten geht weiter. Erdoğan hat schon vor der Wahl angekündigt, den „Krieg gegen den Terror“ fortzusetzen, bis es in der Türkei keinen „Terroristen“ mehr gibt. Der Wähler hat diese Ankündigung belohnt. Für Erdoğan und die neue Regierung gibt es deshalb keinen Grund, jetzt zum Frieden zurückzukehren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos