Kommentar Türkische Verfassungsreform: Das Undenkbare droht
Alle jüngsten Manöver Erdogans zeigen vor allem eines: Seine Nerven liegen vor dem Referendum zur Verfassungsänderung blank.
M it der am Montag in Deutschland beginnenden Abstimmung über eine Änderung der türkischen Verfassung hat der Countdown zur Zukunft der türkischen Demokratie begonnen. Die zuletzt noch laut gewordenen Spekulationen über eine Verschiebung oder Absage des Referendums dürften sich damit erledigt haben. Während in den letzten Tagen nun auch in Deutschland endlich das Neinlager etwas sichtbarer geworden ist, bleibt es in der Türkei selbst äußerst spannend.
Dabei ist ein interessanter Schwenk zu beobachten, der das ganze Dilemma der Erdoğan-Kampagne deutlich macht. Möglich geworden war der Erfolg Erdoğans bei der Abstimmung der neuen Verfassungsartikel im Parlament nur dadurch, dass die ultrarechte MHP sich der AKP angeschlossen hatte.
Doch während die MHP-Führung ihre Abgeordneten noch mühsam auf Linie bringen konnte, klappt das bei der Basis der Partei ganz und gar nicht. Laut Umfragen wird nur ein Drittel der MHP-Wähler mit Ja stimmen. Die AKP versucht deshalb jetzt wieder, kurdische Wähler auf ihre Seite zu ziehen, die sich wegen der Zusammenarbeit mit der MHP abgewandt hatten.
Die Kurden sollen es jetzt richten
Folglich durften überraschenderweise am 21. März landesweit Newroz-Feiern stattfinden. Die Polizei duldete sogar, dass in Diyarbakır wesentlich mehr Transparente mit dem Führer der verbotenen PKK, Abdullah Öcalan, geschwenkt wurden als auf der zuvor so heftig kritisierten Demo in Frankfurt.
Zum anderen versammelte Ministerpräsident Binali Yıldırım konservative und religiöse kurdische Führer um sich und versuchte sie mit Versprechungen für das Referendum zu ködern. Nun versucht Erdoğan sogar noch einmal aus dem Europa-Thema Funken zu schlagen, indem er ankündigte, später im Jahr das Volk darüber abstimmen zu lassen, ob die Türkei den EU-Beitritts-Prozess fortsetzen soll. Als wenn es dazu noch etwas abzustimmen gäbe, will er suggerieren, die Türkei könne der EU eine Lektion erteilen.
Doch alle diese Manöver zeigen nur eins: Bei Erdoğan liegen die Nerven blank. Was lange als undenkbar galt, rückt nun immer mehr in den Bereich des Denkbaren: In der entscheidenden Abstimmung seines Lebens könnte Erdoğan verlieren. Der große Führer würde seinen Nimbus verlieren.
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