Kommentar Rückkehr zur Kleinstaaterei: Grenzenloser Wahnsinn mit Grenzen
Wenn Schlagbäume wieder Grenzen verschließen, ist das nicht nur ein Schlag für den Mittelstand. Die Einheit Europas steht auf dem Spiel.

E s war einmal eine Zeit, als ein aufstrebender Jungpolitiker nicht ganz legal Schlagbäume an der deutschen Grenze aufstemmte. Er habe das „aus Begeisterung über den europäischen Aufbruch“ getan, erklärte der Mann später. Dieser Politiker hieß Helmut Kohl, und die von ihm beseitigten Befestigungen markierten die Grenze zu Frankreich, dem vormaligen „Erbfeind“.
Heute sind es seine Parteifreunde von der CDU/CSU, die ultimativ verlangen, diese Schlagbäume europaweit wieder einzurichten. Geschichtslos plädieren Stoiber, Seehofer und Bosbach für die Kleinstaaterei. Dabei ist das grenzenlose Europa nicht nur eine Erleichterung für Spediteure, Lkw-Fahrer und Unternehmen, die ihre Waren ohne Umstände dorthin bewegen können, wo sie gebraucht werden. Es ist auch nicht nur sehr bequem, wenn wir ohne lästige Kontrollen nach Barcelona, Paris oder Athen reisen können.
Es ist viel mehr: ein zivilisatorischer Fortschritt auf einem Kontinent, der über Jahrhunderte von nationalstaatlich motivierten Kriegsgemetzeln geprägt war.
Aber was interessiert schon die europäische Einheit, wenn Flüchtlinge des deutschen Michels Zipfelmütze bedrohen? Was gilt der 1995 geschlossene Vertrag von Schengen angesichts einer erregten Debatte über die angeblich mangelnde Integrationsfähigkeit fremdländischer Muslime?
Den in nationalen Schablonen denkenden Befürwortern von Schlagbäumen scheint nicht nur die Zukunft Europas ein vernachlässigenswertes Thema. Paradoxerweise fallen diese Konservativen auch ihrer eigenen Klientel in den Rücken. Denn es wären natürlich die grenzüberschreitend tätigen Unternehmer, die unmittelbar von dem neuen Grenzregime betroffen wären.
Doch denjenigen, die sonst bei jeder Mindestlohndebatte laut aufschreien und auf den bedrohten deutschen Mittelstand verweisen, ist dieser Mittelstand plötzlich schnurzegal, wenn es um die Abwehr von Flüchtlingen geht.
Die Einwanderung über geschlossene Grenzen stoppen zu wollen erscheint etwa so sinnvoll, wie das Auslaufen überschäumender Milch dadurch zu verhindern, dass man einen Deckel auf den Topf setzt, die Herdplatte aber eingeschaltet lässt. Bei diesem Verfahren ist am Ende nicht nur die Milch verbrannt, sondern auch der Topf ruiniert.
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