Kommentar Rot-Rot-Grün in Thüringen: Wer hat Angst vorm roten Mann?
Konservative stilisieren Rot-Rot-Grün in Erfurt zur Gefahr. Was die Gegenwart nicht hergibt, muss die Vergangenheit erfüllen.
I n der Merkel-Ära sind scharfe Konflikte Mangelware. Der Grundkonsens – von Mindestlohn bis Atomausstieg – war noch nie so groß, die Opposition noch nie so schwach. Die Entideologisierung hat mit der Großen Koalition ein Maß erreicht, das auch in der auf die politische Mitte fixierten Bundesrepublik erstaunlich ist. Wenn sich alle einig sind, ist die Rolle des Schurken unbesetzt.
Das erklärt, warum Konservative Rot-Rot-Grün in Erfurt so wütend zur Gefahr stilisieren. Was die Gegenwart nicht hergibt, muss die Vergangenheit erfüllen. Aber ihnen steht, wenn Bodo Ramelow Ministerpräsident wird, wohl eine Enttäuschung bevor. Rot-Rot-Grün in Erfurt wird vor allem eins: eine normale Landesregierung.
Der Koalitionsvertrag ist jedenfalls solide. Rot-Rot-Grün verspricht keine großen Würfe, sondern kleine Schritte. Man will den Mittelstand fördern und die katastrophale finanzielle Lage der Kommunen verbessern. Das von der CDU eingeführte Betreuungsgeld auf Landesebene wird eingestampft und durch ein kostenloses Kitajahr ersetzt: eine überfällige Modernisierung. Die Schuldenbremse setzt sowieso enge Grenzen.
Dieser Koalitionsvertrag ist derart sozialdemokratisch gefärbt, dass etwas mehr links und grün nicht schlecht gewesen wäre. Dass eine Umweltministerin die Energiewende forcieren soll, ist erfreulich; das Ziel, das Land 2040 komplett mit Öko-Energie zu versorgen, ehrgeizig.
Keine Blaupause für den Bund
Schade, dass die Grünen nicht auch Landwirtschaft verantworten und den Öko-Umbau der Agrarindustrie betreiben können. Denn SPD und Linke hängen immer noch an der „Big is beautiful“-Ideologie. Und: Es werden nur die V-Leute des Verfassungsschutzes – und vielleicht nicht alle – abgeschaltet. Das wirkt nach dem NSU-Skandal zaghaft. Besser wäre, wenn sich Linkspartei und Grüne mit der Idee, das Amt abzuschaffen oder wenigstens neu zu gründen, durchgesetzt hätten.
Rot-Rot-Grün in Erfurt ist keine Blaupause für den Bund. Und auch der „rote Ring von Ländern ums schwarze Kanzleramt“, von dem Katja Kipping träumt, ist eine Seifenblase. Aber es kann zum Modell werden: ein Beweis, dass die politische Linke Konsens kann. Die Linkspartei hat sich klug bei der Zahl der Ministerien beschieden und SPD und Grünen weit mehr überlassen als üblich. Eine Mitte-links-Regierung, die offen, ambitioniert und stabil ist – das wäre etwas Neues.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr