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Kommentar Österreichs FlüchtlingspolitikDer Flüchtling als Notstand

Ralf Leonhard
Kommentar von Ralf Leonhard

Die Regierungsparteien nutzen die Notverordnung zur Rettung ihrer Koalition. Sie versuchen so, die Erfolge der rechten FPÖ auszubremsen.

Ein österreichischer Polizist an der Grenze zu Slowenien Foto: dpa

A sylsuchende bringen Österreich an den Rand des Notstands. Um das Asylrecht künftig noch restriktiver handhaben zu können, suchen die Regierungsparteien SPÖ und ÖVP Zuflucht zu diesem Kunstgriff. Sie lassen sich für den Fall einer neuen Welle von Flüchtlingen das Notverordnungsrecht absegnen. Das ist eigentlich für echte Katastrophen vorgesehen, die die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gefährden und schnelles Handeln erfordern.

Gefährdet ist aber weniger die staatliche Integrität als der Bestand der eigenen Regierung. Deren Erhalt gilt das Sonderverordnungsrecht. Seit einem Jahr müssen die Koalitionspartner zusehen, wie die rechte FPÖ sämtliche Umfragen anführt und seit Beginn der Flüchtlingskrise die Deutungshoheit über den Volkswillen beansprucht. Also wollen sie Handlungsfähigkeit gegenüber neuen Fluchtbewegungen signalisieren.

Die kurzlebige Willkommenskultur war unter dem Schock entstanden, den der elende Erstickungstod von über 70 Flüchtlingen in einem Kühlwagen vergangenen August ausgelöst hatte. Einen Spätsommer lang riss eine mitfühlende Bevölkerung die Regierenden mit und zeigte, dass Menschlichkeit und Nächstenliebe keine Auswüchse von Charakterschwäche sind. Schon gegen Jahresende bemühte man sich aber angesichts Zehntausender Asylanträge wieder um eine Rückkehr zur Abschreckungspolitik: Bilder von überfüllten Lagern und Berichte von Arbeits- und Perspektivenlosigkeit sollten in den Ursprungsländern den Eindruck festigen, dass dies kein Land ist, wo eine bessere Zukunft wartet.

Gleichzeitig werden auch bei der einheimischen Bevölkerung Ängste geschürt. Nicht nur von der FPÖ, sondern auch von der konservativen ÖVP. Und die SPÖ, die das Proletariat schon lange an die FPÖ verloren hat, zieht brav mit. Denn der sonst drohende Kollaps der Koalition würde zu Neuwahlen führen, auf die die FPÖ schon lange hinarbeitet.

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Ralf Leonhard
Auslandskorrespondent Österreich
*1955 in Wien; † 21. Mai 2023, taz-Korrespondent für Österreich und Ungarn. Daneben freier Autor für Radio und Print. Im früheren Leben (1985-1996) taz-Korrespondent in Zentralamerika mit Einzugsgebiet von Mexiko über die Karibik bis Kolumbien und Peru. Nach Lateinamerika reiste er regelmäßig. Vom Tsunami 2004 bis zum Ende des Bürgerkriegs war er auch immer wieder in Sri Lanka. Tutor für Nicaragua am Schulungszentrum der GIZ in Bad Honnef. Autor von Studien und Projektevaluierungen in Lateinamerika und Afrika. Gelernter Jurist und Absolvent der Diplomatischen Akademie in Wien.
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5 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Ich fürchte, ein echter Spitzenfunktionär sieht keinen großen Unterschied zwischen einer Gefährdung der "staatliche[n] Integrität" und der (realen oder imaginierten) Gefährdung des "Bestand[es] der eigenen Regierung".

     

    Der Staat bin ich, lautet die Devise. Der sogenannte "Volkswille" wird ab und an von Demoskopen erfragt. Am Telefon. Mit Fragen, die am realen Leben meilenweit vorbei gehen, wie ich gerade gestern erst wider erfahren durfte als Teil einer sogenannten Stichprobe. Man fragte allen Ernstes (und zwar völlig unvermittelt), ob ich lieber Frau Merkel oder Herrn Gabriel zum Kanzler machen würde, wenn ich denn direkt wählen dürfte. Man fragte nicht, was ich mir dabei denken würde. Vermutlich hatte man dafür sehr gute Gründe. Zumindest solche, die man dafür hielt.

     

    "Einen Spätsommer lang riss eine mitfühlende Bevölkerung die Regierenden mit und zeigte, dass Menschlichkeit und Nächstenliebe keine Auswüchse von Charakterschwäche sind". Inzwischen haben die "Regierenden" die "mitfühlende Bevölkerung" offensichtlich eines Besseren belehrt.

     

    Apropos: Für die "Bilder von überfüllten Lagern", die "Berichte von Arbeits- und Perspektivenlosigkeit" und die Kommentare zum Thema "mitfühlende Bevölkerung" sind NICHT die Regierenden verantwortlich. Jedenfalls nicht direkt. Zuständig für derlei sind DIE Medien, die sich viel zu oft was zu versprechen scheinen davon, glaubhaft jegliche "Charakterschwäche" zu bestreiten.

    • @mowgli:

      > keinen großen Unterschied zwischen einer Gefährdung der "staatliche[n] Integrität" und der (realen oder imaginierten) Gefährdung des "Bestand[es] der eigenen Regierung"

       

      > Der sogenannte "Volkswille" wird ab und an von Demoskopen erfragt

       

      Beides ist nur Vorbereitung auf die nächste Wahl. In der Demokratie wollen Parteien Wahlen gewinnen.

  • Man kann es drehen oder wenden oder egal wie man wem was unterstellen will:

     

    Es macht keinen Sinn "der Politik" Vorwürfe zu machen oder geschürte Angst zu unterstellen.

    Es ist und bleibt der Wähler der das Demokratie-Risiko bildet:

    Im Herbst 2015 Mitlied, im Winter Entsetzen über Geflüchtete in Köln, nunmehr Phlegmatismus über die Bedingungen in Griechischen Camps.

     

    Die Politik folgt den Stimmungen, da Wählerbewegung!

    So lange wir den Merkelismus haben der alles was passiert von einer beobachtenden Position bewertet und dann emotional entscheidet (Euro und GR-Krise, Atomausstieg, Geflüchtete...) wird sich das nicht ändern. Und Österreich eiert halt irgendwie mit.

    • @Tom Farmer:

      Sie haben aber schon mal was von Manipulation gehört, TOM FARMER, oder? Wenn nicht, kann ich gern aushelfen mit einer Definition:

       

      Manipulation meint in der Politik, der Soziologie und der Psychologie die "gezielte und verdeckte Einflussnahme, also sämtliche Prozesse, welche auf eine Steuerung des Erlebens und Verhaltens von Einzelnen und Gruppen zielen und diesen verborgen bleiben sollen".

       

      "Manipulierte Menschen handeln nicht aus eigenen Einsichten oder Überzeugungen, sondern fremdbestimmt", weiß das Lexikon. Und außerdem weiß es: "Wer Unterlegenheitsgefühle, mangelndes Selbstvertrauen oder Angst hat, lässt sich leichter täuschen, ist leicht manipulierbar." Dreimal dürfen Sie nun raten, was genau derzeit passiert mit dem Wähler, der angeblich "das Demokratie-Risiko bildet".

       

      Die Politik folgt nicht. Sie führt. Weil sie sich was davon verspricht. Und zwar für sich, nicht für die Wähler.

      • @mowgli:

        Wo und wer führt aktuell in der Politik?

        Bitte schreiben Sie: Die Politik SOLLTE führen.

         

        Die Politik hat sich das abgewöhnt und der Merkelismus ist die Speerspitze dieser Entwicklung.

        Politik folgt dem Beobachtungsprinzip sowie der Wählerbefragung via Sonntagsfrage; z.T. auch trial and error.

         

        Ihre Bemerkungen von Manipulation verstehe ich in dem Kontext nicht. Gezielte und Beliebige Eitelkeiten der Medien; wenn Sie das meinen, gerne, da bin ich dabei.

        Das zu durchschauen von Frau Will bis zum Regierungssprecher, der ein Teil davon ist, das ist aber nicht schwer!