Kommentar Migrationspolitik: Wanderung gehört zum Alltag
Migration innerhalb des Kontinents ist in Afrika weitaus weniger umstritten als in Europa. Damit ist Afrika im Vorteil.
E s ist der uralte panafrikanische Freiheitstraum: offene Grenzen für alle. Wenn einmal die europäische Dominanz Afrikas überwunden ist, können auch die einst von europäischen Eroberern gezogenen Grenzen zwischen afrikanischen Staaten fallen, die künstlich Gesellschaften spalten und Brüder und Schwestern voneinander trennen.
Während es in Europa beim Traum vom grenzenlosen Kontinent um das Einebnen der eigenen Nationalstaatlichkeit und damit auch tiefverwurzelter Identitäten geht, kann sich Afrika beim Niederreißen seiner Grenzen auf die Überwindung der Relikte einer verhassten kolonialen Fremdherrschaft berufen und auf die Rückkehr zu sich selbst. Deswegen sind Appelle der Afrikanischen Union, die Einheit des Kontinents herzustellen, in Afrika viel weniger umstritten, als es ähnliche Vorhaben in Europa je sein können.
In der aktuellen globalen Migrationsdebatte ist Afrika gegenüber Europa damit entscheidend im Vorteil. Migration und Zuwanderung, ob freiwillig oder erzwungen, kann in afrikanischen Staaten nur in Ausnahmefällen zur identitätsgefährdenden Bedrohung hochstilisiert werden. Dass Wanderung, ob freiwillig oder erzwungen, zum Alltag und zur eigenen Geschichte gehört, haben die meisten afrikanischen Gesellschaften längst verinnerlicht – die meisten afrikanischen Gründungsmythen und Identitätsgewissheiten beruhen auf der Herkunft von anderswo, von Nomaden in den Savannen bis zu Wanderarbeitern in den Städten, und auch weltweit gehört die Entwurzelung mit der Erinnerung an das Trauma der Versklavung zum Kern schwarzer Identitätsstiftung.
Wenn jetzt die Afrikanische Union davon spricht, Migration als Normalität zu begreifen, ist dies auch ein Appell an Europa, im Hinblick auf Afrika einen Perspektivwechsel zu vollziehen. Wer in Afrika auf Abschottung und Migrationsverhinderung setzt, verbaut den Menschen die Zukunft.
Noch sind in Afrika viele Diktatoren an der Macht
Zwar sind auch in Afrika noch allzu viele Diktatoren am Werk, die genau das tun, um sich international einzuschmeicheln, und denen das Schicksal der eigenen Bevölkerung herzlich egal ist. Aber eine zukunftsorientierte europäische Afrikapolitik sollte sich andere Maßstäbe setzen – und auf zukunftsorientierte afrikanische Partner bauen, die es inzwischen ebenfalls an höchster Stelle gibt.
Es sollte eigentlich nicht so schwer sein, dass eine Europa verpflichtete Europäische Union mit einer Afrika verpflichteten Afrikanischen Union auf Augenhöhe über Migrationsfragen spricht. Nicht zuletzt wäre das von europäischer Seite ein Akt der historischen Wiedergutmachung für die Verbrechen Europas in Afrika. Die gemeinsamen Herausforderungen eines schrumpfenden und alternden Europa und eines rasch wachsenden und dynamischen Afrika können nur gemeinsam gelöst werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Twitter-Ersatz Bluesky
Toxic Positivity