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Kommentar Massenproteste in BrasilienKurz vor dem Staatsstreich

Andreas Behn
Kommentar von Andreas Behn

Trotz des Skandals muss die PT-Regierung in Brasilien gegen einen Umsturzversuch verteidigt werden. Denn dieser stellt den Rechtsstaat infrage.

Rousseff und Lula stecken bis zum Hals in Korruption Foto: dpa

E s ist geradezu ein Ding der Unmöglichkeit geworden, die Regierung von Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff und ihre amtierende Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) zu verteidigen. Beide stecken bis zum Hals in einem Korruptionsskandal. Gemeinsam mit korrupten Bauunternehmen haben sie Milliarden öffentlicher Gelder veruntreut und zum Kauf von politischen Gefälligkeiten von noch dubioseren Politikern verwendet, mit denen eine einst fortschrittliche Partei wie die PT niemals eine Allianz hätte eingehen dürfen.

Und dies ist schon der zweite Skandal dieser Art. Bereits im Jahr 2005 wandten sich viele Linke von der Partei ab, die sie gemeinsam in 20 Jahren Aktivismus nach der Militärdiktatur aufgebaut hatten. Hinzu kommt, dass Rousseff auf den Druck der konservativen Opposition mit Entgegenkommen beispielsweise in der Wirtschaftspolitik reagiert und damit auch noch die ihr verbliebene Basis gegen sich aufbringt.

Doch aktuell muss diese PT-Regierung, trotz ihres Fehlverhaltens, gegen einen Umsturzversuch verteidigt werden. Die konservative Opposition und undurchsichtige rechte Seilschaften blasen mit Unterstützung der Massenmedien zum Sturm auf eine demokratisch gewählte Regierung. Und sie stellen den Rechtsstaat infrage.

Amtsenthebungsverfahren

Das brasilianische Parlament hat am Donnerstag ein Amtsenthebungsverfahren für Präsidentin Dilma Rousseff auf den Weg gebracht, die um ihr politisches Überleben kämpft. Die Abgeordneten wählten eine Sonderkommission aus 65 Parlamentariern, die einen Bericht über die Verfolgung eines Amtsenthebungsverfahrens vorlegen soll. Rousseff steht unter Korruptionsvorwürfen, ein Großteil von ihnen ist mit den Geschäften des Ölkonzerns Petrobras verknüpft. (afp)

Der Korruptionsermittler veröffentlichte Stunden nach der umstrittenen Ernennung von Expräsident Lula da Silva zum Kabinettschef ein abgehörtes Telefonat zwischen ihm und Rousseff. Er wollte belegen, dass dieser vor Strafverfolgung geschützt werden solle. Das ist eine Provokation, die die aufgeheizte Stimmung im Land zum Überkochen bringen kann.

Der bislang friedliche Protest von Hunderttausenden gegen eine unbeliebte Regierung beginnt in handgreifliche Auseinandersetzungen umzuschlagen. Zu Recht warnen Juristen, Intellektuelle und Aktivisten davor, dass gerade die Stimmung für einen Staatsstreich geschaffen werde.

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Andreas Behn
Auslandskorrespondent Südamerika
Journalist und Soziologe, lebt seit neun Jahren in Rio de Janeiro und berichtet für Zeitungen, Agenturen und Radios aus der Region. Arbeitsschwerpunkt sind interkulturelle Medienprojekte wie der Nachrichtenpool Lateinamerika (Mexiko/Berlin) und Pulsar, die Presseagentur des Weltverbands Freier Radios (Amarc) in Lateinamerika.
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14 Kommentare

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  • Jetzt fehlt nur noch das die Regierungen von Evo Morales und Correa gekippt werden. Dann ist Lateinamaerika, wie es immer war: der Einflussbereich der USA und europäischer Interessen. Gute Iddee für ein solidarisches Lateiamerika kamen aussedem oft aus Venezuela und leider nicht aus Brasilien: Telesur als multikultureller Kanal in spanischer und portugiesischer Sprache als Gegengewicht zu CNN- wie viele Brasilianer hören und sehen ihn regelmässig? Die Chinesen haben für Venezuela einen Satelliten ins All geschossen, um die Übertragung zu ermöglichen. Unasur - auch eine Initiative von Chavez, damit sich die Staaten Lateinamerikas selber um Angelegenheiten der Region kümmern und militärische Konflikte schlichten und verhindern.

  • Meiner Meinung nach wollen die Politiker der Opposition um PSDB und PMDB, mit Hilfe der Massenmedien die Aufmerksamkeit des Volkes auf Lula lenken, um Ihn als Schuldigen des „Lava Jato“ Skandals hinzustellen, so dass die Ermittlungsverfahren gegen sie selbst vom Volk bald vergessen werden.

  • Was momentan in Brasilien vorgeht ist eine gigantische „Medienshow“ der großen Nachrichtensender wie GLOBO und Veja, welche die extrem korrupte Opposition um die Partei PSDB und PMDB unterstützt und mit allen Mitteln versucht Dilma und Lula als die Schuldigen des Korruptionsskandals darzustellen um PT aus dem Amt heben zu können.

     

    Ermittlungsprozesse wie „Lava Jato“ gegen Großunternehmer und Politiker wurde erst unter der Regierung von PT vorangetrieben. Es handelt sich dabei um einen parteiübergreifenden Korruptionsskandal wobei gegen über 60 Politiker ermittelt wird. Auf der Liste der Personen gegen die ermittelt wird sind auch die vertreten, die an vorderster Front die Amtsenthebung Dilmas propagieren. Es laufen auch Ermittlungsverfahren gegen rund 7 PT-Politiker, darunter auch Lula, gegen den momentan allderdings keine handfesten Beweise vorliegen.

     

    Nach der Ernennung Lulas zum Minister, was auch unter linken Kreisen nicht als positiv wahrgenommen wurde, wurde eine „Amtsenthebungs-Kommission“ einberufen, welche von Eduardo Cunha geleitet wird, einem radikaler und umstrittenen Politiker gegen den einige Ermittlungsverfahren neben „Lava Jato“ laufen, unter anderem auch wegen Veruntreuung von öffentlichen Geldern auf Konten in der Schweiz. Außerdem erhielten 40% der Politiker die für die Komission vorgeschlagen wurden Geldspenden für Wahlkampagnen von exakt den Großunternehmen, gegen die auch ermittelt wird.

     

    Wieso wird nicht berichtet, dass die rund 500 namhaftesten Politik-, Sozialwissenschaftler und Professoren der renommiertesten Universitäten eine Petition gegen das Amtsenthebungsverfahren unterzeichnet haben? Warum wurde nicht berichtet dass gestern Millionen von Bürgern, unterstütz von Schauspielern und Intellektuellen, auf die Straße gingen um für die Demokratie und gegen die Manipulation des Volkes durch die Massenmedien zu protestierten?

    • @bodseeg:

      "die rund 500 namhaftesten Politik-, Sozialwissenschaftler und Professoren der renommiertesten Universitäten"

      Ein schöner Satz. Wie aus einem Werbe-Flyer. Bleibt zu (er)klären, laut welchem "ranking" es die "namhaftesten" der "renommiertesten" seien... "Millionen von Bürgern [... gingen auf die Strasse] für die Demokratie und gegen die Manipulation des Volkes durch die Massenmedien". Tropikal-Fantasy pur. Für jene, die Brasilien empirisch leben. Und dessen kognitive Situation.

      NOCH einmal: DAS ist Brasilien (von drinnen & unten): http://www.ardaga.net/web-content/PDFS/OUT_ALL-OF-YOU.pdf

      PS: Weil (dank grosser und mutiger Vorarbeit vom ersten schwarzen Höchstrichter Joaquim Barbosa) nun ein paar junge Richter sich idem ein Ethinkherz gefasst haben und Korruption-ganz-oben in der Tat untersuchen, ist das nicht falsch oder anti-PT. Es ist spät aber doch ein Zeichen, dass in unsrem Land vielleicht einmal eines der drei Wahldemokratiebeine funktionieren könnte. Und wir beginnen, uns von den brasilointrinsischen Mafia- und Raubmödercliquen (wir haben keine "Parteien" noch Ideologien in unsrer genozidären Kleptokratie!) und deren Turbo-Euter in Grosskapital (69% der Wahlspenden der 10 grössten Spender Brasiliens gingen übrigens an Dilma und die ach-von-rechtsundkapital so "verfolgte" "Arbeiter"-"Partei"!) zu befreien. Von allen! Der pinocchiolinken idem.

      • @Ardaga:

        Falls es noch nicht aufgefallen. Es gibt eine zeitgleiche internationale Agenda: Ablösung aller linken Regierungen in Lateinamerika - wie "links" sie auch immer sei mögen . Zumindestens waren sie nur begrenzt neoliberal. Wobei der Sozialdemokratismus Lulas wohl der wenigst linke des Kontinents war und die Oberklasse und obere Mittelschicht gehätschelt hat. Aber natürlich hat siech Brasilien nicht mehr dem Diktat der grossen Politik gebeugt und mit der Bank des Südens der Weltbank die Stirn geboten. Es hat sich mit BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrica) aus Sicht der USA und Europas die falschen Partner genommen. Es hat das Freihandelsabkommen mit der EU nicht unterzeichnet. Allerdings haben vor kurzem Chile und Peru das Transpazifische Abkommen mit den USA und Australien unterzeichnet, dass eindeutig den Mercosur und die Position Chinas im Pazifikraum schwächen werden. Argentinien ist neoliberal geworden. Venezuela wird von den USA mit Sanktionen belegt, die Opposition finanziell und medial unterstützt, damit die Regierung Madura bald fällt. Ein Freihandelsabkommen zwischen Kolumbien und USA existiert schon.

      • @Ardaga:

        Bezüglich der Korruption. Nach Informationen, die ich allerdings as zweiter Hand habe, sind von den unter dem Korruptionsangeklagten von "Lava Jato" ca . 25 % Politiker aus der PT , der Rest der 75 % kommt aus anderen Parteien. Warum werden diese nicht "Amtsenthoben"? Warum steht nur die PT im Fokus? Warum kann Herr Cunha, der selber unter Korruptionsvorwurf mit Auslandskonto in der Schweiz steht, das Amtsenthebungsverfahren betreiben und seine eigenen Fall unter den Teppich kehren. Er würde Präsident der Republik werden - als Korruptionsangeklagter? 40 Abgeordnete des 65 grossen Amtsenthebungsverfahrens stehen unter Korruptionsverdacht - wie soll das gehen? Ein Richter lässt ohne legale Mittel abhören und findet das einen "Formfehler", den man mal vergessen könnte. Dabei kommt es aber nicht zu einer Aufdeckung von grösserem Ausmass. Trotz gibt er diese Informationen an die Presse, um Stimmung zu machen. Man vergesse nicht: die Arbeiterpartei ist aus der Gewerkschaftsbewegung CUT entstanden, die auch weiterhin als Arbeiterorganization besteht.

      • @Ardaga:

        Ich habe deine Analyse über Brasilien überflogen und respektieren den umfassenden Blick auf die vielen Bereiche. Wenn alle Brasilianer so kritisch und scharf ihr Land sehen würden - Brasilien wäre anders. Brasilien lebt leider immer noch nach dem Leitspruch der brasilianischen Militärdiktatur : Brazil - ama o deixa : liebe Brasilien oder verlasse es. Zynismus pur in der Militärdiktatur.

        • @Henning Lilge:

          Wenn Du vielleicht mal nicht "überfliegen", sondern in Ruhe und mit konzentriertem Gemach lese- bzw. hinterlandgraswurzelalltagassimilieren würdest..., dann wären Deine langen PT-Verteidigungsreden und Hinweise auf das was die PT mal WAR und die heute, verglichen mit vor ein paar Dekaden, insignifikante US-Einmischerrolle auch für Dich schlussendlich was sie sind: Geschmolzener Schnee von gestern und (Selbst-) Täuschungsmanöver vor den Trümmer- und Todeswerken nicht nur der PINOCCHIOlinken PT, sondern genau den von Dir genannten anderen Pseudogenossen idem (Correa, Morales, Chavez...)

          Im ernüchternd kontemporären linken Kontext, bleibt allein (Jetztsenator) Pepe (Mujica), der, einmal an der Macht, gehalten hat, was sein Lebenslauf versprach. Und prostituierte sich (und verriet die seinen) nicht.

  • Also ja, es gibt da auch einige neoliberale und konservative Kräfte, die Rousseff und Lula verdrängen wollen.

    Aber diese beiden bedienen sich ja auch selbst, statt Brasilien sozialer zu machen.

     

    Die Massenproteste tragen allerdings auch eine Menge elementare Forderungen vor:

    Nein zur Verdrängung durch die Bauindustrie in den armen Stadtteilen,

    ein Ende der Polizeigewalt und der Gangster;

    Mehr Freiheit für Arme statt Rechtsstaat!

  • Als diese "einst fortschrittliche Partei" in der Opposition (in Brasilien heisst das, noch nicht am Grossen Raubkuchentisch) sass, waren deren VerteterInnen die eifrigsten, wenn es (vermeintlich) gegen Korruption und also Untersuchungsausschüsse und Amtsenthebungsverfahren ging. Kein anderer Mafiaflügel (pardon, "Partei") kam gegen diesen Sauberkeits-Eifer an.

    Was uns ja damals hoffen und sogar ein bissl glauben und ergo die PT/Lula unterstützen liess.

    Und wenn jetzt ein offenbarst völlig korrupter und mafiöser Lula von Dilma über Nacht zu Minister gemacht wird, mit der Alleinabsicht ihn damit vor (fälligster!) Strafverfolgung zu schützen, dann ist mir die Forderung eines Ende dieser Raubdynastie vieles (richtig, verständlich, logisch, spät-aber-doch, notwendig), aber nicht gerade ein Putschversuch.

    Im übrigen haben viele nicht erst 2005 oder jetzt erkannt, wofür diese Lula-Gang in der Tat steht. Sondern ab ihrem Tag 1 an den Macht- und Öffimilliardenhebeln. (Viele Grossindustrielle wussten's schon VORHER!) Im Gegensatz zu Eurer blaurosa-äugigen "linke Auferstehung" fatamorganisierenden Medienwelt dort drüben.

    Dass die traditionellen und Neo-Rechten Politgangster nun ihre Chance wittern und HABEN, auch weil da sonst nicht viel gewachsen ist, politisch und sauber seit Ausrufung der Republik..., ist alleiniger "Verdienst" der Lula-Mafia. Venezuela und Argentinien lassen grüssen. Chile und Bolivien werden, diesem Muster folgend, nachziehn. Und (wie allweil) allein Uruguay ist die grosse kleine Ausnhame im südamerikan. Kontext: José "Pepe" Mujica. Ein genuiner Linker. In Wort und Tat, sein Leben lang. Diamteral also zu Lula-Dilmas, Chavez', Kirchners...

    • @Ardaga:

      Vielleicht gab der Staatsanwalt Sergio Moro aber auch am Donnerstag Mittschnitte von Telefonaten zwischen Lula und Dilma frei, vielleicht hatte er seit Februar das Telefon von Lula abhören lassen, vielleicht ist sowas in Brasilien auch illegal (das Abhören von Telefonen). Vielleicht soll eine linksgerichtete Regierung einer - sagen wir mal - mehr USA freundlichen Platz machen. Vielleicht ist dies in Venezuela und Bolivien auch so.

      • @niewiederspd:

        Vielleicht. Viel & leicht. Für uns, die wir drin sind, ist's ZU viel und alles andere als leicht (sich wenigstens am Fressen/Leben zu halten). Und diesmal: nein, der Bösfetisch USA ist's nicht. Warum auch? Lula-Dilma sind die besten Anschiebfreunde des Agrofaschismus seit der Diktatur. Und "im Übrigen" DAS ist Brasilien für die, die drinnen sind. Am Graswurzelboden: http://www.ardaga.net/web-content/PDFS/OUT_ALL-OF-YOU.pdf

  • Brasilien und andere lateinamerikanische Staaten sind längst Aktivitätsschwerpunkte der international bewährten Miet-Revoluzzer von OTPOR/CANVAS, die zwar nichts mit den jeweiligen eigentlichen demokratischen Oppositionsbewegungen am Hut haben, dafür aber um so lauter schreien bzw. mit Töpfen klappern. Deren Demokratie bedeutet Neoliberalismus im Sinne der "Westlichen Wertegemeinschaft" und deren Kampf gegen Korruption tauscht nur die einen korrupten Oligarchen gegen die anderen aus.

    • @Khaled Chaabouté:

      Das stinkt tatsächlich nach "Farbrevolution". Schade, daß man so wenig über die Strippenzieher erfährt.