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Kommentar Flüchtlinge in BerlinSieg der Angst

Kommentar von Susanne Memarnia

Das Verhalten des Bezirks Kreuzberg zeigt: Grüne Solidarität mit Flüchtlingen hat Grenzen. Die Forderung nach Bleiberecht geht vielen zu weit.

Klare Aussage: Protestschild aus den vergangenen Tagen. Bild: dpa

D ie Einigung zwischen dem Bezirk Kreuzberg und den Flüchtlingen in der Schule mag auf den ersten Blick wie ein Sieg „grüner Vernunft“ scheinen. So versucht Stadtrat Hans Panhoff die Geschichte zu verkaufen: Erst mit seinem Räumungsersuchen an die Polizei habe er den notwendigen Druck auf die Besetzer aufgebaut – und sich dennoch kompromissbereit gezeigt, so dass niemand vom Dach springen musste. Auch viele andere Grüne und ihre Sympathisanten dürften erleichtert sein: Ist noch mal alles gut gegangen.

Aber gar nichts ist gut. Nicht nur, weil der Bezirk die Eskalation selbst hervorrief, als er die Polizei holte, um die Schule leerzubekommen. Es war ja abzusehen, dass einige Besetzer bis zum Äußersten gehen würden, um die Schule zu verteidigen. Sie hatten und haben nichts zu verlieren.

Gar nichts ist gut, weil die Kreuzberger Grünen mit ihrem Ruf nach der Polizei zu guter Letzt doch ihre Solidarität mit den Flüchtlingen aufkündigten. Sie haben damit gezeigt, dass ihre Unterstützung von deren politischen Forderungen nichts ist als hohle Phrase. Wenn man aus der Schule ein Flüchtlingszentrum machen will, warum sollten die Flüchtlinge ausziehen? Nun dürfen sie zwar bleiben, aber nur, weil sie unter Einsatz ihres Lebens dafür kämpften – und die grünen Politiker am Ende vor dem Einsatz des allerletzten Mittels zurückgeschreckt sind. Willkommen sind die Flüchtlinge in Kreuzberg schon lange nicht mehr – weder in der Schule noch am Oranienplatz. Sie sind nur noch lästig.

Diese Ambivalenz der Kreuzberger Grünen – einerseits verbale Unterstützung, andererseits faktische Zurückweisung – ist nur zum Teil Ausdruck der Überforderung. Zwar kann der Bezirk kein Bleiberecht aussprechen. Aber wenn er seine eigenen politischen Maximen ernst nimmt, hätte er schon längst für anständige Lebensbedingungen derjenigen sorgen müssen, die für dasselbe kämpfen.

Paragraf 23 des Aufenthaltsgesetzes

Und er hätte sie jetzt auch nicht der Ausländerbehörde zum Fraß vorwerfen dürfen. Aber genau das hat er getan: Nur wegen des Drucks des Bezirks kommen die Schulbesetzer jetzt in das Oranienplatz-Verfahren, das sie eigentlich ablehnen. Schließlich haben sie guten Grund zu der Annahme, dass ihnen auch das keine Bleibensperspektive ermöglicht.

Aber vermutlich stimmen die Forderungen der Flüchtlinge gar nicht mit dem überein, was die Grünen wollen. Trotz der Beteuerungen, sich beim Senat für ein Bleiberecht der Protestler einzusetzen, dürfte es nicht wenige in der Partei – wie in der Bevölkerung – geben, die im Stillen dem Diktum von Innensenator Henkel zustimmen: Es darf für die Oranienplatz-Leute keine Sonderbehandlung geben. Gibt man ihnen Bleiberecht, so die Argumentation, schafft man ein Zwei-Klassen-System – und dann kommen bald alle und schreien laut nach der Extrawurst.

Aber es gibt nun mal diesen Paragraf 23 des Aufenthaltsgesetzes, wonach ein Bundesland aus „völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen“ einer bestimmten Gruppe Aufenthalt gewähren kann. Das Zwei-Klassen-System – wenn man so will – ist gesetzlich vorgesehen.

Und es gibt sehr gute Gründe, das Gesetz in genau diesem Fall anzuwenden. Die Oranienplatz-Bewegung hat mit ihrem Protest die Bundesrepublik verändert. Sie hat die gesellschaftliche Debatte um die deutsche Asylpolitik und ihre unmenschlichen Folgen immens vorangetrieben. Das wachsende Bewusstsein, das etwas fundamental falsch läuft in diesem Staate, verdanken wir nicht zuletzt den Menschen vom Oranienplatz und der Schule.

Es ist also in unserem Interesse, dass sie hierbleiben.

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Redakteurin taz.Berlin
Jahrgang 1969, seit 2003 bei der taz, erst in Köln, seit 2007 in Berlin. Ist im Berliner Lokalteil verantwortlich für die Themenbereiche Migration und Antirassismus.
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10 Kommentare

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  • Das ist wieder einer jener schrecklichen taz-Artikel, bei denen Empörung und Moralpredigten dominieren, Logik und Faltenwissen jedoch auf der Strecke bleiben.

    Im Mittelpunkt steht die Behauptung „Und es gibt sehr gute Gründe, das Gesetz in genau diesem Fall anzuwenden.“. Diese guten Gründe können dann aber nicht benannt werden. Das dürfte man nicht einmal einem Praktikanten durchgehen lassen.

    @RUNTERKOMMER hat sehr schön gezeigt, wie realistisch die Anwendung des $23 ist.

    Die gesamtgesellschaftliche Bedeutung um O-Platz und Schule wirf total überschätzt. Zu den entsprechenden Demos kommen 2- 4 Tausend Leute, selbst auf der 1. Mai-Demo waren 20. Der Protest verbleibt in einer subkulturellen Blase, da er in Form und Inhalt mit einer linksradikalen Agenda verknüpft ist. Welcher Bürger geht schon gerne zu einer Demo, deren Parolen von „Feuer und Flamme“ „Bullenstaat“ und dergleichen geprägt sind? In der Stoßrichtung des Protestes wird bewusst auf die Unterscheidung von Asylsuchenden und Wirtschaftsflüchtlingen verzichtet, Jeder, der will, soll noch Deutschland kommen dürfen. Die Forderung nach Verkürzung der Asylverfahren taucht folgerichtig nicht mehr auf. Das ist nur in einem Randbereich der Gesellschaft konsensfähig.

  • "Die Oranienplatz-Bewegung hat mit ihrem Protest die Bundesrepublik verändert."

     

    Es gibt immer mehr Zusammenhalt in der Bevölkerung, unabhängig von der Herkunft und Zugehörigkeit zu einer sozialen Bevölkerungsgruppe. Denn ein Mensch und sein Leben darf weder gesellschaftlich noch gesetzlich mit dem Geld verglichen oder bewertet werden!

     

    Unabhängig vom Bildungsstand stellen Menschen immer mehr Fragen, zum Alltaggeschehen, zu unserer Geschichte und eigenen Menschenrechten (Grundrechten) in der Bundesrepublik und der Europäischen Union.

     

    Eine der Hauptvoraussetzungen für die Unabhängigkeit unseres Landes war die Einführung des Grundgesetzes. Demnach ist ein Mensch und seine Würde, unanfechtbar wie eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die wichtigste Leitlinie in unserem Land für jede behördliche Instanz (Gesetzgebung - Legislative, Vollziehung - Exekutive und Rechtsprechung - Judikative). Alle Gesetze sind dem Art. 1 GG untergeordnet.

     

    Darauf ist unser Land aufgebaut und der Art. 1GG darf weder gesetzlich geändert noch eingeschränkt werden.

     

    (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

     

    (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

     

    (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

  • Wieder einmal ein taz Kommentar zum Thema Asylpolitk, der völlig einseitig Partei für das "Wohl" der Asylbewerber ergreift. Die Asylbewerber werden instrumentalisiert - schön, wenn ein Asylbewerber von "Lagern" spricht, in die man sie verfrachten will - und bei vielen in der Bevölkerung werden die Vorbehalte gegenüber Asylbewerbern noch eher wachsen, leider.

     

    Sorry taz, aber eine umfassende - die Dinge aus vielen Perspektiven beleuchtend - sieht anders aus.

  • 9G
    90191 (Profil gelöscht)

    Welches Recht auf Wohlstand hat ein Deutscher, das ein Flüchtling nicht auch hätte?

  • Dann aber haben wir folgende Situation für den Innensenator und den BMI: Wenn der Innensenator eine 23er-AE erteilt, dann lädt er gleichsam alle kämpferischen, abgelehnten Asylsuchenden aus dem übrigen Bundesgebiet ein, es der Gruppe nachzutun und es ebenfalls durch Druck zu versuchen - da geht ja was. Wird er also nie tun, da auch Berliner Unterbringungsplätze endlich sind. Der BMI schließlich wird - aus Gründen der Bundeseinheitlichkeit - die Zustimmung in jedem Fall verweigern, da er weder faktisch erklären wird, dass D aus dem Dublin-System ausscheert, noch das Signal geben wird, dass man nach einem negativen Asylverfahren durch Druck dennoch ein Bleiberecht erlangen kann.

    Beides liegt sonnenklar auf der Hand. Man darf das doof finden, aber es einfach zu ignorieren und so zu tun, als ob der 23er eine realistische Lösung ist, ist schlicht verantwortungslos und unerwachsen. Und zwar sowohl gegenüber den Flcühtlingen, denen Hoffnungen gemacht werden, als auch gegenüber den Sympathisanten und Unterstützern, die in eine Frontstellung und Hass gegenüber den staatlichen Institutionen getrieben werden. Auch wenn man noch so laut "23" brüllt und Henkel zur Hassfigur aufbaut - so einfach ist es nicht. Dass auch Frau Herrmann als Bezirksbürgermeisterin in diesen Chor einstimmt, ist beschämend. Sie weiß ganz genau, dass das nicht passieren wird. Falls nicht, soll sie mal mit Kretschmann und Kuhn telefonieren, ob die nicht in Stuttgart mit gutem Beispiel vorangehen wollen - dann kehrt vielleicht ein bisschen Realismus ein.

  • Die Forderung nach der Anwendung des § 23 AufenthG ist m.E. vollkommen unrealistisch und führt deshalb in die Sackgasse. Aus folgenden Gründen: Sofern es gelingt, eine Gruppe zu definieren, stellt sich die Frage, wodurch die Gruppenmitglieder sich von anderen Flüchtlingen (ob nun in Berlin, Bayern, Stuttgart oder Bottrop) unterscheiden - außer durch die Tatsache, dass sie in Berlin für ein Bleiberecht demonstrieren, was ich in keiner Weise abwerten will, nur um Missverständnissen vorzubeugen.

    Vermutlich durch nichts wirklich substantielles.

  • Die Autorin unterschlägt, daß die Bundesländer nicht ohne Zustimmung des Bundes diese Aufenthaltsgewährung anordnen können, der letzte Satz in § 23(1) ist da jedoch absolut eindeutig.

    Viel wesentlicher ist allerdings, daß auch Frau Memarnia keinen humanitären Grund benennen kann oder will, wegen dem das Land Berlin überhaupt an das BMI herantreten sollte.

    "Es gibt sehr gute Gründe.." schreibt sie - aber welche denn, bitteschön?

    Was ist an einem Asylverfahren in Oberfranken oder Hamburg oder... inhuman?

     

    Ob das Kreuzberger Geschehen der letzten anderthalb Jahre die Diskussion über die Asyl- und die Zuwanderungsregeln nicht eher in Richtung einer noch stärkeren Ablehnung Berlins im Rest des Landes verschoben hat, wird man spätestens bei den Verhandlungen über die Neuregelung des Länderfinanzausgleichs merken.

    Und auch in Berlin - nur halt außerhalb des Kreuzberger Paralleluniversums - scheint mir die Diskussion nicht so recht in die von der Autorin angedeutete Richtung vorangekommen zu sein, um es mal ganz, ganz vorsichtig auszudrücken.

    • @Jan Engelstädter:

      Das Kreuzberger Geschehen ist lediglich ein Kristallisationspunkt. Im Rest der Republik bzw. Europas ist die Situation nicht besser, bloß weil da keine Transparente aus Häusern hängen. Das Problem steht erst am Anfang. Anstatt sich über den Länderfinanzausgleich Sorgen zu machen, sollte man das für Frontex verschwendete Geld (man achte auf die Bilder in den Nachrichten) lieber für europaweite Bildungs- und Berufsperspektiven für Flüchtlinge ausgeben. Von der Korrektur der Wirtschaftsstrukturen weltweit ganz zu schweigen. Tschüss bis zum nächsten Flüchlingsdrama dann.

  • Interessant. Die taz erwartet Nibelungentreue von den Grünen? Solidarität bis ...

    • @Ernst Tschernich:

      Nibelungentreue??? Blödsinn! Sie erwartet lediglich, dass die Grünen zu ihrem Grundsatzprogramm und zu ihren Wurzeln stehn! Und sich nicht auf faule Kompromisse einlassen und sich somit dem rechten Mainstream sich anbieden!