Kommentar Ende Wahlrechtsausschluss: Kein „Wähler-TÜV“ für niemanden
Niemand darf wegen einer Erkrankung oder kognitiven Behinderung vom Wählen ausgeschlossen werden. Eine überfällige Entscheidung.
P sychisch Kranke und Menschen mit kognitiven Behinderungen dürfen nicht pauschal vom Wählen ausgeschlossen werden, hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt. Das ist gut und war lange überfällig.
Überfällig ist es nicht nur, weil es in vielen europäischen Ländern keinen Wahlrechtsausschluss wie in Deutschland gibt. Sondern auch, weil in Deutschland bislang zwei Gruppen existierten: Da gibt es die Menschen mit kognitiven Einschränkungen, die unter gesetzlicher Betreuung „in allen Angelegenheiten“ stehen und ebendeshalb nicht wählen dürfen. Um diese Gruppe geht es in dem Urteil. Sehr viel größer aber ist die Gruppe der Demenzkranken, die über eine Vorsorgevollmacht von Angehörigen betreut werden und ihr Wahlrecht behalten, auch wenn sie ihre Familie nicht mehr erkennen.
Wann immer eine Wahl ansteht, wird für Demenzkranke in Deutschland zu Tausenden Briefwahl beantragt. Wer dann wirklich wo und warum das Kreuzchen macht, kann niemand überprüfen. Angeblich kommen aus Caritas-Heimen besonders viele Wahlzettel mit CDU-Kreuzchen, aus Heimen der Arbeiterwohlfahrt viele mit SPD-Kreuzchen, hat eine SPD-Politikerin mal vor Jahren in Bezugnahme auf Wahlhelferkreise erzählt.
Aber selbst wenn man unterstellt, dass WählerInnen mit starken kognitiven Beeinträchtigungen leichter manipulierbar sind, so darf das nie ein Grund sein, diese Gruppen von Wählen auszuschließen. Auch die Wahlentscheidungen von nichtbehinderten Menschen beruhen ja nicht immer auf tiefer Kenntnis der Parteiprogramme, sondern richten sich nach vagen Gefühlslagen, Sympathien, Vorurteilen. Es wäre lächerlich, wollte jemand Grenzwerte für eine Art „WählerInnen-TÜV“ einführen.
Der Ehrgeiz von Angehörigen, Begleitern, BetreuerInnen von kognitiv Beeinträchtigten sollte darin bestehen, die Wahlfreiheit der ihnen Anvertrauten zu stützen. Mit Infos, Gesprächen, Begleitungen. Wählen ist viel mehr als nur wählen: Es ist Aufregung, Anregung, Dazugehören. Hoffnung. Inklusion. Das gilt es zu schützen.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Alleingang des Finanzministers
Lindner will Bürgergeld kürzen
Putins Brics-Gipfel in Kasan
Club der falschen Freunde
Deutsche Asylpolitik
Die Hölle der anderen
Kritik an Initiative Finanzielle Bildung
Ministeriumsattacke auf Attac
Linke in Berlin
Parteiaustritte nach Antisemitismus-Streit
Investitionsbonus für Unternehmen
Das habecksche Gießkannenprinzip