Kommentar Auschwitz-Urteil des BGH: Reichlich verspätete Gerechtigkeit
Das Urteil ist ein Meilenstein im Umgang mit Nazitätern. Und die symbolische Bedeutung kann gar nicht hoch genug bewertet werden.
E s ist ein Meilenstein in der Geschichte der Strafverfolgung von Nazitätern. Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass es zu einer Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord ausreicht, wenn der Täter in einem Lager wie Auschwitz als Wachmann oder Buchhalter den Mordbetrieb unterstützt hat. Eine unmittelbare Tatbeteiligung ist dazu nicht erforderlich. Damit könnten nun endlich die Tausenden SS-Wachhabenden und Bürokräfte zur Verantwortung gezogen werden, denen kein individueller Mord nachweisbar war – nicht verwunderlich angesichts der Tatsache, dass die Zeugen ihrer bestialischen Taten fast ausnahmslos selbst ermordet worden sind.
Die Täter könnten jetzt belangt werden. Aber das wird nicht passieren. Das BGH-Urteil kommt um Jahrzehnte zu spät, und das wohl nicht ganz zufällig. Fast alle mutmaßlichen Täter sind inzwischen, mehr als 71 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes, verstorben. Ja, es leben noch einige wenige Greise, denen nun der Prozess bereitet werden kann.
Das ist auch gut so, denn warum sollte ein Mordhelfer straffrei ausgehen, nur weil es ihm gelungen ist, sich unter tätiger Mithilfe der Justiz lange genug vor einer Haftstrafe zu drücken? Auch einige wenige ihrer mit dem Leben davongekommenen Opfer leben schließlich noch, ganz zu schweigen von ihren Nachfahren. Ihr Verlangen nach Gerechtigkeit misst sich nicht an der Zahl der vergangenen Jahre seit dem Holocaust. Mord verjährt nicht.
Die letzten Verfahren gegen Nazitäter, die nun noch folgen mögen, sind strafrechtlich betrachtet nur noch von geringer Relevanz. Viel größer ist ihre symbolische Bedeutung – als Auseinandersetzung mit begangenem deutschem Unrecht, ja, auch als eine Art Geschichtsunterricht aus einer inzwischen fernen Zeit. Das ist gerade angesichts des Versuchs von rechtspopulistischer Seite, die deutsche Geschichte in ein günstigeres Licht zu rücken, bitter nötig – man denke nur an Frauke Petrys Erklärung, das „Völkische“ positiv besetzen zu wollen.
Selbstverständlich haben all diejenigen recht, die der Justiz vorwerfen, sie habe die Verurteilung all der Schreibtischtäter, Richter und Staatsanwälte in Nazidiensten viel zu lange systematisch boykottiert. Aber wenn es im Jahr 2016 überhaupt noch etwas gibt, das dem Recht zu seinem sehr späten Durchbruch verhilft, dann ist es dieses Urteil. Dafür gebührt dem Bundesgerichtshof Dank.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Trump macht Selenskyj für Andauern des Kriegs verantwortlich
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?
Emotionen und politische Realität
Raus aus dem postfaktischen Regieren!