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Kommentar Abschiebeheime in AfrikaMarokko ist nur der Anfang

Christian Jakob
Kommentar von Christian Jakob

Mit dem Plan, straffällig gewordene Jugendliche abzuschieben, soll ein Präzedenzfall geschaffen werden. Das ist Abwälzen von Verantwortung.

Ob straffällig geworden oder nicht: Jugendliche Flüchtlinge brauchen besonderen Schutz Foto: dpa

U nbegleitete Minderjährige werden aus Deutschland derzeit nur extrem selten abgeschoben. Und das aus guten Gründen: Sie haben Anspruch auf besonderen Schutz und Achtung ihrer Rechte. Entwurzelung, Elternlosigkeit, Sprachprobleme, Gewalt, Armut – junge Flüchtlinge befinden sich in Lebenslagen, die durchzustehen schon die meisten Erwachsenen überfordert. Daraus erwächst ihnen gegenüber die Pflicht zur Fürsorge.

Deutschland hat sich in diesen Fragen in der Vergangenheit nicht rühmlich hervorgetan. Die UN-Kinderrechtskonvention hatte es 1992 nur unter Vorbehalt ratifiziert: Bei Asylverfahren sollten die Kinderrechte ausdrücklich nicht gelten – so konnten Flüchtlinge schon ab 16 Jahren wie Erwachsene behandelt und in Abschiebehaft genommen werden. Erst 2010 beendete die Bundesregierung diese Praxis.

Jetzt will sie in Nordafrika Heime bauen und betreiben lassen, um Minderjährige ohne Eltern dorthin abschieben zu können – Straftäter und „Freiwillige“. Doch wer in jungen Jahren Gesetze bricht, hat Anspruch auf Hilfe, einen besseren Weg einzuschlagen. Das ist der zentrale Gedanke des Jugendstrafrechts. Und den kann man nicht auf irgendwelche NGOs in Marokko abwälzen.

Es ist ohne Frage sinnvoll, für die, die wirklich zurückwollen, Hilfsangebote zu schaffen. Doch dass es dar­um nicht wirklich geht, zeigt ein Blick auf die Balkanstaaten: Anders als nach Marokko werden dorthin seit Jahren im großen Stil Roma-Familien mit in Deutschland aufgewachsenen Kindern zurückgeschickt. Ihnen hilft niemand, denn sie kann Deutschland auch so abschieben.

Wer in jungen Jahren Gesetze bricht, hat Anspruch auf Hilfe, einen besseren Weg einzuschlagen. Das ist der zentrale Gedanke des Jugendstrafrechts

Die neue, deutsch-schwedische Offensive zur Entfernung junger Marokkaner soll zweifellos einen Präzedenzfall schaffen. An den seit Silvester in Köln schlecht beleumundeten Nordafrikanern wollen die Innenminister testen, wie weit sie die Rechte junger Flüchtlinge wieder abbauen können.

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Christian Jakob
Reportage & Recherche
Seit 2006 bei der taz, zuerst bei der taz Nord in Bremen, seit 2014 im Ressort Reportage und Recherche. Im Ch. Links Verlag erschien von ihm im September 2023 "Endzeit. Die neue Angst vor dem Untergang und der Kampf um unsere Zukunft". 2022 und 2019 gab er den Atlas der Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit heraus. Zuvor schrieb er "Die Bleibenden", eine Geschichte der Flüchtlingsbewegung, "Diktatoren als Türsteher" (mit Simone Schlindwein) und "Angriff auf Europa" (mit M. Gürgen, P. Hecht. S. am Orde und N. Horaczek); alle erschienen im Ch. Links Verlag. Seit 2018 ist er Autor des Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt. 2020/'21 war er als Stipendiat am Max Planck Institut für Völkerrecht in Heidelberg. Auf Bluesky: chrjkb.bsky.social
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7 Kommentare

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  • Ja - stimmt.

     

    Aber im ersten Satz letzt. Absatz -

    - "…zur Entfernung…"

    Bitte entfernen. Danke. wg -

    Neusprech & Sprache des Unmenschen.

    .

  • In Kanada hat man im 19. und 20. Jahrhundert versucht, die kulturelle Integration der Eskimos durch eine zeitweilige heimatferne Betreuung und Beschulung der Kinder zu erreichen.

     

    Die Folge waren massenweise Traumatisierungen und kulturelle Brüche unter denen noch Generationen von Eskimos bis heute leiden. Die Integration der Eskimos in das westliche Leben Kanadas ist auch 150 Jahre später nicht gelungen.

     

    In diesem Sinne ist die Idee der Schweden nahezu revolutionär und absolut sinnvoll.

     

    Die Kinder und Jugendliche machen sich ja wider besseren Wissens oder gedrängt und getrieben von Erwachsenen auf den Weg nach Europa. Die Folgen dieser Entwurzelung sieht man nicht nur in Frankreich.

     

    Es ist die Überheblichkeit eines Teils der westlichen Gesellschaft, die annehmen läßt, dass diese Kinder und Jugendliche in (Nord-und West-) Europa besser aufwachsen können ... das Gegenteil ist der Fall. Das Identitätstrauma dieser späteren Erwachsenen führt u.a. zur Desintegration ...

    • @TazTiz:

      Ihr Vergleich hinkt, werteR TAZTI, und zwar gewaltig.

       

      Die minderjährigen „Eskimo“ (Yupik, Inuit, Inupiat usw.) haben ihre Familien nicht freiwillig verlassen. Sie wurden quasi entführt. Es war nicht der angebliche „Kulturschock“ der zu „massenweise[n] Traumatisierungen“ geführt hat, die bis heute nachwirken. Es war die Gewalterfahrung. Kulturelle Unterschiede überbrücken Kinder und Jugendliche in der Regel spielend, so lange man sie gut behandelt. Tut man das nicht, gibt es große Probleme.

       

      Nein, die „Idee der Schweden“ (besteht die Bundesregierung wirklich aus Schweden?) ist nicht „revolutionär“. Auch nicht „nahezu“. Sie ist uralt. Es ist die notdürftig neu bemäntelte Idee, Macht dürfte im Zweifel missbraucht werden. Das Auftauchen dieser Idee ist leider unvermeidlich, wo Menschen Macht zum Zwecke der Kompensation eigener Schwächen anstreben. Wollen, Können und Müssen sind eben immer noch dreierlei.

       

      Was immer „man“ gerade in Frankreich sieht (was, ganz genau, meinen Sie?), ist jedenfalls keine „Folge von Entwurzelung“. Es ist eine Folge verweigerter Chancengleichheit. Ja, es gibt eine gewisse „Überheblichkeit eines Teils der westlichen Gesellschaft“. Nur liegt der Fehler im „System“. Auch „nordafrikanische“ Kinder könnten in (Nord-und West-)Europa besser aufwachsen als in den korrupten Kleptokratien unseres Nachbarkontinentes – wenn nicht die Herkunft hier eine so große Rolle spielen würde.

       

      Apropos: Was soll das sein, ein „Identitätstrauma“? Ich sage es Ihnen: Ein Identitätstrauma entsteht in dem Moment, in dem ein Heranwachsender urplötzlich kapiert, dass die Gesellschaft, in die er sich gern integrieren würde, ihn nicht haben will. Weil sie schon mehr als genug zu tun hat mit der Integration jener Gleichaltrigen, deren gebildete, wohlhabende und bestens vernetzte Eltern den nötigen Ellenbogendruck aufbringen. Den Ellenbogendruck, meine ich, der gebraucht wird, um die nicht vorhandene „Hilfsbereitschaft“ ideologisch verbogener Egoisten zu mobilisieren.

      • @mowgli:

        Woher wissen Sie, dass minderjährige & alleinreisende Flüchtlinge ihre Heimat "freiwillig" verlassen?

         

        Das psychische Hauptsymptom dieser Gruppe ist übrigens Heimweh - nach Eltern, Freunden, Familie und der Heimat. Es ist geradezu zynisch anzunehmen, dass Kinder und Minderjährige in Deutschland quasi ein Bildungsjahr machen wollen.

         

        Nein, sie sind geschickt oder gedrängt oder gezwungen zu gehen, um hier in Deutschland entweder bereits anwesenden Landsleuten zu dienen (oder wie auch immer Sie das nennen wollen) oder den Familien in der Heimat Unterstützung zukommen zu lassen oder um sich zu sorgen, weil niemand zuhause es tat. Zu Recht müssen Kinder in solchen Situationen staatlich unterstützt werden. Zu Recht müssen sie auch keine Asylanträge stelle (auch weil es ja i.d.R. gar keinen Asylgrund gibt). Aber das unbedingte "Hierbleiben" ist eben nicht die Lösung.

         

        Dass diese Kinder hier "gewollt" sind, glaube ich auch nicht - wer sollte solch Kinderleid wollen?

  • Der Sinn ist doch gerade, die jungen Leute nicht hier aufwachsen zu lassen. Sie kommen dann nämlich in ihrem Vaterland nicht mehr zurecht, siehe Balkan. Schule und Ausbildung kann man auch in Nordafrika bezahlen. Ich finde das einen guten Ansatz.

    • @Energiefuchs:

      ...wie wär's mit HIERGEBLIEBEN?...

      Wie wär's, wenn die deutsche Gesellschaft hier in Deutschland Verantwortung übernimmt und den jungen Menschen aus aller Welt hier in Deutschland eine dauerhafte Perspektive für ihr Leben gibt - mit Bildung und Beruf?

      • 8G
        83379 (Profil gelöscht)
        @Der Alleswisser:

        Sehr gute Initiative, die Jugendlichen wachsen in einem kulutrellen Umfeld auf das ihnen vertraut ist ohne Sprachprobleme - solange es gut finanziert ist kein Problem. Vielleicht kann man ähnliche Arrangments mit Afghanistans Nachbarstaaten schließen für Geldzahlungen darf Deutschland dort ebenfalls solche Heime aufmachen und die Jugendlichen bekommen einen Aufenthaltstitel. Günstiger als sie in Deutschland zu integrieren, und sie stehen ihren Regionen als ausgebildete Arbeitskräfte zur Verfügung.