Komische Oper Berlin: Schwere Erkältung
Bei „Intolleranza 1960“ von Luigi Nono an der Komischen Oper sitzt das Publikum auf der Bühne und steckt halstief in einer Eiswüste aus Plastik.
Das Gebäude an der Behrenstraße steht noch, aber eine Oper ist nicht mehr drin, schon gar keine komische. Sie muss renoviert werden. Der große Saal ist verhängt mit gefühlten Kilometern weißer Laken, das Parkett besteht aus ebenso weißer Watte, die Bühne ist eine steil ansteigende Treppe weißer Sitzkissen. Platzanweiserinnen müssen helfen, die Reihen- und Sitznummern zu finden, die auf der Eintrittskarte stehen.
Nur die Bitte aus den Lautsprechern, das Handy jetzt auszuschalten, ist die alte geblieben. Ein unsichtbarer Chor beginnt zu singen, eine einfache Melodie, die sich aufspaltet in ein vielstimmiges Geflecht. Es besteht aus Zwölftonreihen, die sich zu einem Gebet für das Leben in Frieden zusammenfügen. Es klingt überirdisch und zeitlos schön.
So beginnt Luigi Nono sein erstes Stück für die Bühne, das er „Szenische Aktion“ nennt. 1960, das Jahr der Komposition, steht programmatisch im Titel. Das Wort „Intolleranza“ selbst ist zweideutig. Nicht zu dulden sind die gesellschaftlichen Zustände des Jahres 1960 nicht nur für die Opfer, sondern auch für uns, die wir im Theater sitzen. Nono agitiert, damit wir den Kriegen, der Folter und der Ausbeutung ein Ende bereiten.
Das Anfangsgebet ist nicht fromm, es formuliert das Ziel eines Volksaufstandes, der alles andere als ein bloß moralischer Appell sein muss. Nono war ein großer Musiker. Die Agitation steckt in jeder Note. Seine Musik illustriert nichts, sie ist in sich selbst die politische Forderung nach einer universalen Menschlichkeit, die sich jetzt und hier stellt, nicht irgendwann in einem symbolischen Reich des Guten.
Faschismus, Grubenunglück und Umweltkatastrophe
Fünf Solostimmen, ein großer Chor und ein großes Orchester bringen Faschismus und Konzentrationslager, ein Grubenunglück in Belgien und eine Umweltkatastrophe im Podelta mit fesselnd intensiver Musik auf die Bühne, gelegentlich unterbrochen von tagesaktuellen Nachrichten für eine Sprechstimme. Die Regie muss nichts darstellen, alles ist zu hören, klar und verständlich bei aller Komplexität, manchmal auch verstummend leise bis an die Grenze des Hörbaren.
Am 27. und 29. September sowie am 1. und 3. Oktober in der Komischen Oper
Weil das so ist, schien Nono inzwischen etwas antiquiert. Er klang nach zu viel italienischem Linksradikalismus, der sich ja heute nicht weniger blamiert hat als anderswo. Für die Komische Oper versucht Regisseur Marco Štorman deshalb, ein Theater existenzieller Erfahrungen aufzuführen. Tatsächlich hat Nono die einzelnen Episoden des im Doppelsinn nicht hinnehmbaren Grauens in der Figur eines Arbeitsmigranten verknüpft, der in seine Heimat zurückkehren will.
Bei Štorman führt seine Geschichte nicht hinaus in die sozialistische Revolution, sondern in das Innere seiner Seele. Sie leidet an der Metapher, die im Bühnenbild von Márton Ágh gleich den ganzen Raum der Oper ausfüllt. Die Welt ist eine Eiswüste, will uns die Regie sagen und tut alles dafür, dass wir das glauben. Sogar das Orchester muss hinter symbolischen Grabtüchern verschwinden.
Zu sehen sind jedoch nur Dekorationen, die jedes sinnvolle Theaterspiel verhindern. Die Chormitgieder stecken in weißen Schleiern, die sie nur ablegen, um als weiße Würmer umher zu kriechen. Was Sean Pannikar (Tenor) als Emigrant, Deniz Usun (Mezzosopran), Gloria Rehm (Sopran), Tom Erik Lie (Bariton) und Tijl Faveyts (Bass) spielen sollen, wissen sie nicht und flüchten in viel zu große Pathosgesten, um wenigstens anständig singen zu können.
Die Musik ist vollendete Kunst
Das allerdings können sie überragend gut. Aus der Höhe des zweiten Zuschauerrangs herab dirigiert Gabriel Feltz einigermaßen schwindelfrei. Nur der Schleierchor hat gelegentlich Mühe zu folgen. Man ist sofort bereit, solche Mängel zu verzeihen, weil die Regie es auch uns im Publikum schwer macht. Manche stecken bis zum Hals in der Eiswüste und können die Plastikwatte aus der Nähe studieren, aus der sie besteht. Hinten auf der Eistreppe haben wir wenigstens den Überblick über die Monotonie einer symbolisch überhöhten, schweren Erkältung des Theaters.
Nach 80 Minuten ist sie vorbei, über Nonos originale 75 Minuten hinaus verlängert von Ilse Ritter, die vorträgt, was Carolin Emcke an der Welt zu beklagen hat, druckreif fürs Feuilleton formuliert. Schwer zu begreifen ist daran nur, was Susanne Moser und Philip Bröking, das neue Intendantenpaar, uns damit sagen will. Krieg mitten in Europa, die polaren Eiskappen schmelzen.
Vor über 60 Jahren schrieb Nono die Musik, die jetzt nötig ist. Sie ist vollendete Kunst, keine Demonstration und kein Parteiprogramm. Sie ist schön, weil sie sich mit allen Mitteln weigert, das Unrecht der Gegenwart hinzunehmen. Sie gehört an die Komische Oper, nicht ins Feuilleton. Orchester, Chor und Ensemble können sie sehr gut spielen. Die Regie muss es nur wollen. Štorman wollte es nicht.
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