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Kolumne SchlaglochNur nicht erwischen lassen

Kolumne
von Ilija Trojanow

Die Brexiteers scheinen unter starken imperialen Phantomschmerzen zu leiden. Das macht ein Miteinander auf Augenhöhe unmöglich.

Brexiteers empfinden den EU-Austritt als Chance zu den alten englischen Qualitäten zurückzukehren Foto: Simon Migaj/Unsplash

M it jedem weiteren Brexit-Tag erinnere ich mich mehr an meine Kindheit. An meine Zeit in einem englischen Internat in einer sehr englischen Kolonie: Kenia, eine sogenannte settler’s colony, weil sie nicht nur kolonial verwaltet, sondern auch besiedelt wurde. Ich habe meine Zeit dort genossen, auch wenn es eine merkwürdige Erfahrung war. Denn alles war importiert, sogar die Jahreszeiten. Unsere Trimester richteten sich aus an einem klimatischen Kalender, der keinen Bezug hatte zu dem Land, in dem wir uns befanden, denn in Kenia gab es keinen Herbst und kein Frühjahr und gewiss keinen Winter.

Natürlich war auch der Lehrplan importiert. Erst viel später habe ich begriffen, dass die historische Darstellung von entschiedener imperialer Einseitigkeit war: Siege gegen die Waliser, Siege gegen die Schotten, Siege gegen die Franzosen, Siege gegen die Iren. Wir saßen an unseren Pulten, umgeben von Jacaranda-Bäumen, studierten die Aufstellung der Armeen und die Finten der Generäle, und hatten uns darüber zu freuen, dass am Ende des geschichtlichen Kriegstages stets die Engländer gewannen – zumindest schien es so.

Am Ende meines ersten Schuljahres, als die Zeugnisse ausgeteilt wurden, erklärte der Klassenlehrer: „Wie könnt ihr zulassen, dass ein Ausländer besser ist als ihr?“ Der Ausländer, das war ich, die anderen Schüler offenbar Teil einer imperialen Einheit, auch wenn viele darunter Afrikaner und Inder waren. Ein Jahr später verkündete derselbe Lehrer: „Es gibt zwei Arten von Menschen, Engländer und solche, die es gerne wären.“ Worauf er lachte, so als sei es ein Witz, ein komplizenhaftes Lachen, das wohl zum Ausdruck bringen sollte: Wir tun so, als würden wir scherzen, aber – unter uns – genau so ist es.

Er gackerte eher, als dass er lachte, und das infantile Gackern des Boris Johnson erinnert mich stark an jenes meines Klassenlehrers. Auch er war Elite, wenn auch nur ein Reserverad, es hatte ihn aus unbekannten Gründen nach Kenia verschlagen. Auch er trug sein aristokratisches Charisma ungetrübt durch den schweißtreibenden Tag.

Historische Entwicklungshemmung

Stets herausgeputzt und mit einer Grimasse ins Komödiantische, um zu zeigen, dass Menschen seiner Herkunft und Haltung den Niederungen der kleinen Menschen entrückt sind. Als ich einmal bei der Übertretung einer der vielen strengen Regeln erwischt wurde, schimpfte er mich: „Du darfst dich nicht erwischen lassen.“ Und dann, auf Englisch wunderbar elliptisch: „You do can anything, if you can get away with it.“

Da haben wir die Maxime, nach der die führenden Köpfe der Brexit-Kampagne operieren. Wie der irische Publizist Fintan O’Toole in seinem lesenswerten Buch „Heroic Failure. Brexit and the Politics of Pain“ so treffend beschreibt, verkleidet sich der althergebrachte Rassismus dieser Klasse in die Sprache des Kindergartens. Wenn Boris Johnson von „flaggenschwenkenden Pikaninnies [Begriff aus der Sklavenzeit: „kleine Schwarze“] mit Wassermelonenlächeln“ spricht, einer seiner unzähligen rhetorischen Ausrutscher (die gerade keine sind), klingt es wie eine Formulierung aus einem alten Kinderbuch, das längst im Giftschrank des Ressentiments verschwunden ist.

Der neue englische Nationalismus inszeniert sich als Anti-Globalisierung – nichts weiter als ein Partygag

Die Fahnenschwenker des Brexit scheinen unter historischer Entwicklungshemmung zu leiden oder unter starken imperialen Phantomschmerzen. Die eigene Größe ist eine Karte aus dem Schulatlas, auf der die Hälfte der Erde rosa oder blau angemalt war (ich kann mich an die Farbe nicht mehr erinnern). Und das eigene Wesen ist der vermeintliche nationale Charakter der Stärke („stiff upper lip“) und der Resilienz („take it on the chin and move on“).

Weswegen in letzter Zeit die harte, brutale, kompromisslose Trennung von der Europäischen Union in solchen Kreisen gefeiert wird als Chance, durch ein Tal der Leiden zu schreiten, um zu den alten englischen Qualitäten zurückzufinden. Auch das kenne ich von meinem Internat. Jeden Morgen Porridge, bei Regen Waldlauf und Schwimmen. Das war die Vorbereitung auf ein Leben im Luxus – früh „tough“ werden, um später regieren und dominieren zu können.

Bereit, einem kleptokratischen System zu dienen

Nur haben sich die Eliten inzwischen verändert. Zwar wurde auf der Insel gefeiert, dass sich vier englische Mannschaften in den zwei europäischen Finals gegenüberstanden, aber diese waren alles andere als „englisch“. Ich meine nicht nur die Spieler, die von überall her stammen, ich meine die Eigentümer der Klubs. Alle vier gehören Oligarchen, die nicht in England leben, Liverpool einem amerikanischen Investmentmanager, Tottenham Hotspurs einem Investor mit Wohnsitz auf den Bahamas, Chelsea dem russisch-israelischen Milliardär Roman Abramowitsch und Arsenal einem amerikanischen Tycoon und einem usbekisch-russischen Magnaten.

Diese neue Elite sieht in London, in England einen Vergnügungspark (und gelegentlich eine solide Investition), sie wurden von Boris Johnson hofiert, als er Bürgermeister der Hauptstadt war, er bot ihnen eine glokale Oase an. Wenn also der neue englische Nationalismus sich als Anti-Globalisierung inszeniert, dann kommt das zwar in den Schichten der Abgehängten und Marginalisierten gut an, es ist aber nichts weiter als ein Partygag.

Denn die drei oder vier stets schwertfuchtelnden Brexiteers, die sich als heiliger Georg inszenieren (auf einer Kirmes), sind nichts weiter als Butler für eine fresssüchtige Geld­elite, der auf der Insel nicht nur die traditionellen Fußballvereine gehören, sondern auch ikonische Stadtpaläste (wie etwa Witanhurst Mansion) oder Teile des altehrwürdigen Oxford.

Weil der imperiale Phantomschmerz ein Miteinander auf Augenhöhe verunmöglicht (gemeinsame Entscheidungen auf EU-Ebene wurden verunglimpft als Erniedrigung oder gar Versklavung), sind diese Leute bereit, einem kleptokratischen System zu dienen, solange sie sich im nationalen Spiegel als frei und unabhängig aufplustern können. Und das ist nicht zum Gackern, das ist zutiefst tragisch.

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12 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • "Auch er war Elite, wenn auch nur ein Reserverad, es hatte ihn aus unbekannten Gründen nach Kenia verschlagen."

    Die Gruende stehen doch im selben Satz: er war nur Reserverad! Beim Kolonialismus zog es doch vor allem die Teile der Elite in die Kolonien die zuhause nichts wurden weil sie nicht gut genug waren

  • Ob die Briten wirklich die Lügen eines Johnson glauben? Ich habe so meine Zweifel. Es scheint so, als ob der Weg gegangen werden muss, auch wenn die Anführer Lügner und Spieler sind und das auch viele wissen. Das Bedürfnis danach ist insgesamt zu groß. Was jahrzehntelang nur gärte ist längst zu einem erschöpften Herbeisehnen der Wirklichkeit geworden. Alles scheint besser als das ewige Würgen an den eigenen Lügen und Illusionen, man will es jetzt einfach wissen, das ist man sich selber schuldig. Der Brexit muss kommen, ohne diese Krise ist eine Heilung nicht mehr denkbar.

    • @Benedikt Bräutigam:

      Tja - Wer hängt ihn auf? Wer hat den Düwel? Wem wird vom 🤮 übel? 😈

      So viele “die“ “wir“ & “man“



      &



      Wer - zahlt die Zeche achteran^?^ 👹

      kurz - Wer hett ehne denn dess verzällt



      Mechanistisch - sei die Welt^¿^



      Wer bitte nennt die Namen - die very very british - hier tonn Lie-ing kamen?

      • @Lowandorder:

        & Däh&Zisch - Mailtütenfrisch my dear

        “ Shakespeare Liar

        Wo Lügner Lügner kennen



        und nicht beim Namen nennen,



        dort ist die Lüge sehr in Mode.



        Es ist die nämliche Methode,



        Mit der uns Werbeleute schwören.



        Die Wahrheit will ja niemand hören.







        Oder wie G.J. Cäsar sagte:



        "Die Menschen glauben gerne,



        was sie wünschen."







        (Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker...)

        Liggers. Besser is das 😈

  • Echt, die Briten, diese Typen.

    Versauen die uns Deutschen doch schon wieder den Endsieg. Da hat Deutschland alles getan, um diesmal mit etwas weniger Militär die entscheidende Macht in Europa zu werden (Naja, Westeuropa. Der Mittelpunkt Europas liegt in Litauen, die blöden Russen gibt es ja auch noch, die sich uns Deutschen nicht unterwerfen:) und die Briten wollen wieder nicht einsehen, dass nur an dem deutschen Wesen die Welt genesen kann. Dabei sagen wir schon statt "deutschem Wesen" "europäische Einheit", obwohl wir das selbe meinen.



    Da wagen diese Briten sich doch tatsächlich sich mehr auf ihr ehemaliges Commonwealth als Handelspartner zu konzentrieren anstatt auf die EU, in der Deutschland der Exportweltmeister ist.



    Wo soll das noch enden mit denen, wenn schon deren Fußballclubs Ausländern gehören und auch noch Nicht EU-Mitgliedern (Russen, Israelis, US-Bürgern, Usbeken). Das wird noch so enden, dass die Briten dank ihrer guten Beziehungen zu Indien mit sauberen Elektroautos durch die Gegend fahren anstatt mit deutschen Stinkdieseln den CO2-Ausstoß zu erhöhen.

    Da muss jetzt was passieren. Dem Briten gehört die Maske abgerissen, der muss der Bösewicht sein. Okay, deren imperialistisch-rassistische Vergangenheit ist vielleicht etwas länger her als die deutsche und war auch nicht ganz so elend wie unsere vor 70 Jahren, aber wer weiß das noch. Wir sind doch die guten Europäer, die heute noch die europäischen Nationen unter einer Euroknute leiden lassen.



    Wenn die Briten da nicht mitmachen, muss man eben mal ein bisschen hetzen.

    • @Age Krüger:

      Ja, genau das wird in der britischen Öffentlichkeit verbreitet:



      Deutschland will durch die EU die Welt regieren und Merkel ist an Allem Schuld.



      Zugegeben, Merkel ist in Deutschland verantwortlich und gelegentlich kippt sie eigentlich richtige und wichtige Entscheidungen der EU (z.B. Abgasgrenzwerte) zu Ungunsten der Menschen - aber sie ist durch die EU auch schon zu vielen sinnvollen Gesetzen gezwungen worden. Gut so.



      Leider werden EU-Gesetze zum Verbraucher- und Arbeitnehmerschutz in der britischen Öffentlichkeit dann als abzulehnender Zwang verkauft und das Märchen genährt, die EU sei schlecht für die Briten - dabei ist sie nur schlecht für einige wenige reiche Exzentriker, die so nicht mehr ganz so wie gewollt die Menschen aussaugen können - in allen Ländern der EU.

    • @Age Krüger:

      Naja - sach mal so:

      Der Wechsel vom ewigen Libero der Gegenmannschaft in den eigenen Reihen (EU) - zum anvisierten Brexit -



      Is ja nun doch bizarr folgerichtig &



      n very british drop&kick in combi with:



      And Now for Something Completely Different.

      kurz - Eton & Oxbridge - Really Really



      “Aus anderer Leutz Leder - is leicht Riemen schneiden!“ - middle age knows

  • Der angelsächsische Imperialismus steht in einer ungebrochenen Kontinuität mit dem "unipolaren" Neoliberalismus der transatlantischen Eliten. Und an letzterem wollen sogar die deutschen grünen Provinztrampel kriecherisch teilhaben indem sie den Säbel gegen den putinistischen Antichrist schwingen.

  • Der Artikel hat die Gedankenkultur der Brexiteers präzise zusammengefasst, vielen Dank.

    Auch ich war in einem englischen Internat, in dem eines der ersten "pragmatischen" Ratschläge die Phrase war: "Just don't get caught".

    Für mich als Jugendlicher öffnete sich mit dieser Phrase der Blick in den moralischen Abgrund.

    Man durfte also alles tun, solange man nicht erwischt werden würde? Jede Grenzüberschreitung? Übervorteilung? Veruntreuung? Diebstahl? Raub? Gar Mord?

    Auf diese Gegenfrage war mein englischer Gesprächspartner nicht vorbereitet, merkte selbst, zu welcher Konsequenz seine zersetzende Phrase wirklich führen könnte.

    Austritt aus der EU? Rahmenbedingungen verhandeln? Absichtserklärung unterzeichnen? Vorvertrag vereinbaren? Und dann?

    "Brexit means Brexit, and we'll make a success of it!".

    Ja, Theresa May, ja.

    Spätestens jetzt müsste jeder Kontinentaleuropäer wissen, was "Pragmatik" wirklich bedeutet: Prinzipienlosigkeit und Opportunismus.

  • Genau das trifft es: "solange sie sich im nationalen Spiegel als frei und unabhängig aufplustern können."



    Das war und ist den Briten einfach scheinbar das Wichtigste, sodass sie offenbar bereit sind selbst die vielen Unwahrheiten zu schlucken, welche ihnen im Zusammenhang mit dem Brexit von B. Johnson und Co. BEWUSST WAHRHEITSWIDRIG versprochen wurden.

    Und so können wir nur hoffen, dass bei den Briten der Verstand über die (koloniale) Sehnsucht obsiegt.

  • Danke. Was eine Schreibe. Herrlich - einschließlich “glokale Oase“. 😈



    Liggers - anschließe mich 👹

    • @Lowandorder:

      & Däh&Zisch - Mailtütenfrisch -

      “Ilija kann`s. Er hätte noch die Trainer der



      "britischen" Fußballtruppen erwähnen sollen.







      Die aktuellen Figuren der britischen Großpolitik



      scheinen allesamt Shakespeare-Stücken



      entsprungen zu sein, wobei ich mich allerdings



      mit Zuordnungen schwer tue.







      " Aber was muß ich sehen!



      Kann das natürlich geschehen?



      Ist es Schatten? ist's Wirklichkeit?



      Wie wird mein Pudel lang und breit!



      Er hebt sich mit Gewalt,



      Das ist nicht eines Hundes Gestalt!



      Welch ein Gespenst bracht ich ins Haus!



      Schon sieht er wie ein Nilpferd aus,



      Mit feurigen Augen, schrecklichem Gebiß.



      Oh! du bist mir gewiß!



      Für solche halbe Höllenbrut



      Ist Salomonis Schlüssel gut. "







      Ach nee, das ist ja Jöhten (Faust)“



      &



      Nich Shakes sein 🍺