piwik no script img

Kolumne SchlaglochEuropa mauert

Kolumne
von Jagoda Marinić

Viele schreien auf, wenn Unsägliches gesagt wird. Aber Solidarität ist geteilte Verantwortung und nicht nur gemeinsamer Aufschrei in der Komfortzone.

Untergebracht in einem verlassenen Hotel: Geflüchtete im bosnischen Bihać Foto: ap

E s ist derzeit etwas faul am deutschen Diskurs. Es gärt. Manche scheinen sich an diesem Gärungsprozess zu berauschen. Den Gipfel der Sinnlosigkeit hat die deutsche Debatte beim Thema Seenotrettung erreicht. Ein Land, so reich, so zivilisiert, lässt seine Klügsten darüber debattieren, ob Menschenleben zu retten sind? Dabei werden Gräben aufgerissen in diesem mächtigen Deutschland, auf das so viele warten.

Menschen an der bosnischen Grenze zu Europa zum Beispiel. Während in Deutschland Wertedebatten wegen einer Pro-und-contra-Aufmachung in der Zeit geführt werden, sammeln sich Geflüchtete an der Außengrenze Europas. Bihać, die Stadt, von der manche sagen, dass sie nur knapp dem Schicksal von Srebrenica entronnen ist, erlebt seine größte humanitäre Krise seit den Neunzigern. Eine slowenische Zeitung schreibt vom neuen Idomeni.

Die Bewohner von Bihać wollen dies verhindern. Sie sprechen respektvoll von den Menschen in Not, sie wollen aber auch Hilfe von der Weltgemeinschaft. Wenige hundert Kilometer Luftlinie von Deutschland entfernt gibt es kein Essen. Keine Schuhe. Es gibt kaum Toiletten.

Immer mehr Menschen kommen zu anderen, die selbst immer weniger haben. Zu Menschen, die keinen Staat haben, von dem sie etwas zu verlangen gewohnt sind. Sie fangen weite Teile der Not selbst auf.

Mund auf und Augen zu

Die Menschen in Bihać stellen enttäuscht fest: Keiner ist für sie da. Die Menschenrechtsorganisationen nicht, die EU nicht und auch nicht die UNO. Dieses europäische Schicksal spielt im deutschen Diskurs nicht annähernd dieselbe Rolle wie beispielsweise die misslungene Aufmachung der Zeit.

Es ist, als fiele es vielen leichter, sich der eigenen Position in Binnendiskussionen zu vergewissern. Aufgeladene Phrasen darüber, wie absolut man zu den eigenen Werten steht. Man schreit auf, wenn Unsägliches gesagt wird – doch gleichzeitig bleiben die Augen geschlossen.

Man schreit auf, wenn Unsägliches gesagt wird – doch gleichzeitig bleiben die Augen geschlossen

Die großen Titelseiten und Debatten in Deutschland zu Bihać bleiben aus. Intensiv betreibt man unterdessen Sprachkritik an den Rechtspopulisten. Gleichzeitig ist es „unser Europa“, das von der kroatischen Polizei verteidigt wird. Es heißt, die Abwehr sei hart. Das Licht der Rhetorik jener, die sich moralisch überlegen geben, bricht sich am Prisma dieser Ereignisse.

Es sind Zeiten, in denen die Ebene der Sprachkritik nicht ausreicht. Im Gegenteil: Die exponierte Stellung, die Sprachkritik eingenommen hat, ist ein Beweis für die Weltabgewandtheit der deutschsprachigen Diskurse. Man kann nicht immer nur den Chef der Münchner Sicherheitskonferenz befragen, wenn man diskutieren möchte, wie politische Haltungen in politische Handlungen umzusetzen sind.

Zu viele für den kleinen Ort

Solidarität wird nicht allein dadurch hergestellt, dass ich mich gegen den Autor eines Meinungs­artikels in Szene setze. In dieser Zeit erzähle ich die notwendigen Geschichten nicht. Solidarität ist geteilte Verantwortung und nicht nur gemeinsamer Aufschrei in der eigenen Komfortzone.

Die Bewohner von Bihać zeigen Verantwortung, weil sie Krieg und Flucht selbst noch in den Knochen haben. Aus der anfänglichen Hilfsbereitschaft erwachsen mittlerweile Spannungen zwischen den Einheimischen und den Menschen auf der Flucht. Es kommen zu viele für den kleinen Ort.

Die Bosnier, so lese ich, verloren die Fassung jedoch erst, als Flüchtlinge aus Afghanistan ihre Gänse aus dem Fluss finngen und grillten. Man habe, so sagen sie, nicht einmal im Krieg die Wahrzeichen dieser Stadt angerührt. Enten und Gänse hätten, so die Legende, einmal Bihać vor den Osmanen gerettet.

Die Entfremdung der Einheimischen von den Menschen in Not erzählt sich über das Schicksal der Gänse des Flusses Una. Eine europäische Tragödie, die an Banalität kaum zu überbieten ist.

Die Sache mit den Gänsen

Die Verantwortlichen vor Ort nehmen die Geflüchteten in Schutz. Sie sagen, unter den Umständen, unter denen sie hier lebten, wäre niemandem zu verübeln, wenn er sogar sich selbst äße. Die Sprache ist drastisch – ich hoffe, das überleben die Sprachkritiker.

Viele Menschen in Bihać sprechen voller Mitgefühl über die Hilfsbedürftigen: Die meisten seien wunderbar, einige seien, wie überall, schwierig. Erst das Ereignis mit den Gänsen, geboren aus der Not, trieb einen Keil zwischen Helfer und Hilfe Empfangende. So wie die Ungewissheit darüber, wie viele noch kommen werden; darüber, wie viel Hilfe von außen zu erwarten ist.

Letztere erhält das Nachbarland Kroatien. Hier kaufen deutsche Firmen und Investoren sich ins Urlaubsparadies ein. Eine der Trauminseln, Brač, soll dank TUI Deutschland eine der größten Hotelanlagen erhalten, für die das Wasseraufkommen der gesamten Insel nicht reichen würde.

Auch hier gehen die Bewohner auf die Barrikaden – wegen einer ganz anderen Art von Landnahme. Wegen eines Kapitalismus, der die Transformation dieses Landes nutzt, um mithilfe der Eliten vor Ort das Land an ausländische Investoren zu verkaufen.

Nie wieder

Hier mischt sich der Westen ein. Auf beiden Seiten sind es die reichen Industrienationen, ihre Regierungen oder Konzerne, die Einheimische vor vollendete Tatsachen stellen.

In Deutschland erinnert man unterdessen den Jahrestag des Mauerbaus. Emotional aufgeladen wird beteuert: „Nie wieder Mauern“. Nie wieder. Geschichtspathos, das über die Gegenwart gekleistert wird wie eine billige Fassade. Man lernt aus der Vergangenheit, indem man in der Gegenwart Taten folgen lässt.

In Deutschland wird derzeit ein merkwürdiger aufgeheizter Wertediskurs geführt, der das Land dennoch wie Watte vor dem eigentlichen Elend abschirmt. Auch eine verhinderte Abschiebung löst die großen Fragen nicht, wenngleich sie natürlich Menschen rettet.

Am Jahrestag der deutschen Mauer mauert Europa. Eine Mauer auf dem Rücken der Schwächsten in und um Europa. Im besten Fall werden die Gänse auf dem Fluss Una auch dieses Mal ihre Stadt retten. Diesmal vor einer Weltgemeinschaft, die einfach nicht hinsehen will.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

8 Kommentare

 / 
  • Eurobarometer der Europäischen Kommission

    WAHRNEHMUNG VON DISKRIMINIERUNG IN DER GESELLSCHAFT

    Frage: „Bitte sagen Sie mir für jede der folgenden Arten von Diskriminierung, ob sie (IN UNSEREM LAND) Ihrer Meinung nach sehr verbreitet, ziemlich verbreitet, ziemlich selten oder sehr selten ist. Wie ist das mit Diskriminierung aufgrund …?

    Sowohl in Deutschland speziell als auch in der EU insgesamt wird ethnische Herkunft von den meisten Menschen als Hauptdiskriminierungsgrund und als sehr verbreitet in der Gesellschaft gesehen!

    www.google.de/sear...30k1.0.xCikHl8vGWs

    ec.europa.eu/commf...ebs/ebs_393_en.pdf

  • Mir fehlt in diesem Artikel die Verantwortung des bosnischen Staates.

    Er ist es, der die Leute in Bihać vor allm alleinlässt.

    Weder UNO noch Menschenrechtsorganisationen oder EU können ohne ihn in Bihać tätig werden.

    Ich sehe auch nicht, warum der bosnische Staat sich nicht um seine Flüchtlinge kümmern kann, wenn Uganda es tut - in vorbildlicher Weise, wie die Taz darstellt.

    Essen und Schuhe gibt es in Bosnien-Herzegowina grundsätzlich.

    Der bosnische Staat könnte seinen Verpflichtungen mal nachkommen.

    Vielleicht fällt es Syrern oder Afghanen sogar leichter, sich in einem Land mit autochthoner muslimischer Bevölkerung anzusiedeln. Der Kulturclash könnte geringer ausfallen.

    Übrigens fällt es mir schwer, den Konzern TUI als "der Westen" zu definieren.

    Wenn ein Artikel voller Pathos lokale Entwicklungen so lange auf eine Metaebene hebt, bis alles mit allem zu tun hat, verliert er irgendwann seinen Realitätsbezug.

    • @rero:

      Was denken Sie eigentlich, was Realität ist? So etwas wie ein Strich auf einem Blatt Papier?

      Sie werden es nicht glauben, aber in der Realität hat tatsächlich alles mit allem zu tun. Nicht auf irgendwelchen Metaebenen, sondern ganz praktisch und kokret. Einstellungen wie Ihre beispielsweise haben damit zu tun, dass sich die Regierung der reichen Bundesrepublik tatenlos zurücklehnt und die Menschen im armen Bosnien-Herzogowina einfach im Stich lässt. Sie kann sich das schließlich leisten dank der - wie soll ich sagen - seltsamen Einstellung ihrer Wahlberechtigten. Bloß nichts abgeben müssen und immer schön mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf andere zeigen, gel?

      • @mowgli:

        Es ist ein Mythos, die EU würde Bosnien-Herzegowina im Stich lassen.

        Aus dem EU-Fonds für regionale Entwicklung erhielt Bosnien 2014-2017 168 Millionen Euro.

        Und Bosnien bekommt nur deshalb so wenig Geld, weil Strategien nicht erstellt und Richtlinien nicht umgesetzt wurden.

        Die EU hätte bereitwillig mehr gezahlt, wenn die Voraussetzungen dafür in Bosnien geschaffen worden wären.

        Serbien erhält im gleichen Zeitraum 900 Millionen und Albanien 360 Millionen.

        Im Stich gelassen hat die Menschen in Bosnien der bosnische Staat, der von Korruption zerfressen ist und wo die Politiker sich dem Gemeinwohl nun gar nicht verpflichtet fühlen.

        An dem bosnischen Staat kommt man aber für Hilfe nicht vorbei.

        Bosnien ist keine deutsche Kolonie, in der deutsche NGOs oder die deutsche Regierung schalten und walten können, wie sie wollen.

        • 8G
          82236 (Profil gelöscht)
          @rero:

          " Im Stich gelassen hat die Menschen in Bosnien der bosnische Staat, der von Korruption zerfressen ist und wo die Politiker sich dem Gemeinwohl nun gar nicht verpflichtet fühlen."



          Und in einem solchen Staat wollen Sie die Flüchtlinge lassen, wie soll das gehen?

          • @82236 (Profil gelöscht):

            In dem Artikel geht es ausschließlich um Moral und Verantwortung. Die liegt nun mal beim bosnische Staat.

            Ich sehe nicht, dass irgendjemand seiner Verantwortung besser nachkommt, wenn man ihm die Verantwortung abnimmt.

            Das ist bei Individuen nicht anders als bei Regierungen oder Verwaltungen.

            Der Punkt ist, dass aus meiner Sicht die Haltung, die sich im Artikel ausdrückt, neokolonialistisch ist.

            Die kulturelle Überlegenheit drückte sich vor 120 Jahren angeblich im technischen Fortschritt und Zivilisiertheit aus, heute in der moralischen Überlegenheit Deutschlands.

            Die moderne Form von "Am deutschen Wesen wird die Welt genesen."

            Und darüber hinaus glaube ich auch nicht, dass jeder Flüchtling in Deutschland glücklicher ist als in anderen Ländern.

            Menschen in Bihać engagieren sich für Flüchtlinge. Das sollte man respektieren.

            Wollen Sie hingehen und sagen, die Flüchtlinge sollten besser nach Deutschland kommen, denn das Engagement dort ist nichts wert?

            Wäre es nicht besser, den bosnischen Staat an seine Verantwortung zu erinnern und vielleicht mit ein paar zusätzlichen Milliönchen zu unterstützen?

  • 8G
    849 (Profil gelöscht)

    Sehr wahr - und traurig!

  • Dank an JAGODA MARINIĆ fpr diesen engagierten Bericht.

    Niemand will eine Mauer errichten. Ja!?" konfrontierte der DDR Staatsratsvositzende Walter Ulbricht am 10, August 1961 die, von ihm zu einer Internationalen Pressekonferenz geladene Weltöffentlichkeit in Ostberlin mit einem DDR Regierung Statement, das als Feststellung aber auch als Frage verstanden werden konnte, ohne Worte auf einen Misstand zu verweisen, dass Hunderttausende DDR Bürger binnen Wochen den ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden Richtung Westen verlassen hatten.Am 13.8.61 gab Ulbricht die Antwort auf seine so gar nicht gestellte Frage und baute die Berliner Mauer als antifaschistischen Wall selber. Angeblich,den Weltfrieden zu sichern und gleichzeitig die Voraussetzungen zu schaffen, dass der real-existierende Sozialismus den real vagabundierenden Kapitalismus überholt ohne ihn einzuholen.Wenn Konrad Adenauer damals und Nachfolger im Amt, finanziert aus "sachgrundlos" geltenden Rechtstiteln christlicher Kirchen von 1806, 1919,1949, inzwischen 580 Millionen €/anno, nicht nur kirchlichen Mitarbeitern in Form eines Valuta DM Monatsgehalts/anno, sondern allen DDR Bürgern ausgezahlt hätte, wäre es womöglich nicht zum Berliner Mauerbau gekommen.

    Will sagen, es geht um das Öffnen von Fenstern, den globalwirtschaftlichen Blick in einer digitalisierte Wirklichkeit zu wagen, Lösungen wie das Recht auf unbesicherten Sofortkredit für Jedermann sonders jeden Geflüchteten, neben dem allerorten Bezug eines Universal Basic Sharing Income/Monat, wie es der Ökonomie Professor Kalle Moene Oslo vorgestellt hat.10 % des BIP eines Herkunftslandes sind allerorten in der Welt beleihbares Forderungseigentum seiner Bürger, auszuzahlen in Aufnahmeländern und sei es durch deren Vorleistung.bis zu besserem Rat, wie Rückgabe entzogenem Vermögens, Wiedereinsetzung in vorherigen gesellschaftlichen Stand mithilfe der Völkergemeinschaft in der UNO.