Kolumne Schlagloch: Die große Transformation
Grüne und Linke müssen jetzt den Wahlkampf beginnen. Sie müssen konkrete Vorschläge machen, zu denen die Bürger nicht Nein sagen würden.
Wir erreichen das Ende einer Epoche“, formuliert der Wortführer der Koalition. Sein Partner stimmt ihm zu: „Wir haben einen Wendepunkt erreicht. Entweder drohen erbitterte Verteilungskämpfe, oder die Politik schafft eine sozial-ökologische Transformation, die in ihrer Dimension kaum Vorbilder findet. Diese Transformation muss alle Bereiche in Wirtschaft und Gesellschaft erfassen.“
Und der Dritte im Bunde legt eine Reihe von Diagrammen auf den Verhandlungstisch, aus denen hervorgeht, dass kein weiteres Wachstum des Bruttosozialprodukts zu erwarten ist, dass wir jährlich knapp 57 Milliarden mehr für Bildung brauchen und dass mit Effizienzsteigerung allein keine Umweltprobleme gelöst werden. Sondern dass wir anders leben müssen, dass die Politik eine Kulturrevolution anstiften muss.
Das ist kein Mitschnitt der anstehenden schwarz-roten Gespräche, sondern es stammt aus dem Bericht der Enquetekommission Wohlstand, Wachstum, Lebensqualität der vergangenen Legislaturperiode. Wegen der 60 Sondervoten einer Allianz von SPD, Grünen und Linken sind es eigentlich zwei Berichte: einer, der auf eine ewige Wiederkunft des kapitalistischen Wachstums setzt, wenn auch mit kleinen Korrekturen. Und einer, der gestaltende Politik nur noch für möglich hält, wenn sie sich aus der „geistigen Geiselhaft“ des Wachstumsdenkens befreit.
Es gab dabei Hoffnung auf eine ganz große Koalition, etwa als der wertkatholische CDU-Abgeordnete Matthias Zimmer und das SPD-Urgestein Michael Müller gemeinsam über die Ambivalenz des Fortschritts nachdachten; im großen Ganzen aber machte die Kommissionsarbeit deutlich: Wenn es hart auf hart kommt, stecken wir immer noch im kalten Krieg zweier Kulturen, die sich nicht einmal auf eine gemeinsame Definitionen von Wachstum, Krise oder Lebensqualität einigen können.
ist freier Autor und Publizist und lebt in Berlin.
Petitessen
Was für einen Wahlkampf hätten wir erlebt, wenn die drei sozialdemokratischen Parteien auf ihre Hinterbänkler gesetzt und mit verteilten Rollen für die „große Transformation“ geworben hätten? Wenn die Presse sich nicht mit Petitessen wie Steinbrücks Rhetorik oder presserechtlichen Verantwortlichkeiten aus grüner Vorzeit beschäftigt hätte, sondern mit einem Kampf der Konzepte? Wenn die Leitartikler beigesteuert hätten, was den Parteien derzeit abgeht: Lust auf das, was nottut, und vor allem: die „Kraft der Zuspitzung“? Und was wäre dabei herausgekommen? Schlimmstenfalls Schwarz-Gelb, aber klare Verhältnisse.
Und nun? „Die SPD steht nur für einen Politikwechsel zur Verfügung“, hat ihr Parteikonvent beschlossen, aber nach Lage der Dinge wird, neben der Trophäe des Mindestlohns (den die Kanzlerin sonst erst Anfang 2017 eingeführt hätte) ein wenig an den Stellschrauben des Steuerrechts und der Altersrenten gedreht und, oh Jammer, der Stromnetzausbau beschleunigt, auf dass die Elektrizität in den Händen der Riesen bleibt. Aber, um mit Beckett zu sprechen: „Egal. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“
Die Grünen, die den Reformwillen der Wähler weniger überschätzt als zu wenig geformt haben, und die Linken, die im Kritisieren immer präziser werden, aber übersehen, dass es nicht reicht, ein paar Reiche zu besteuern – die Koalitionäre von 2017 sollten sich nicht vier Jahre lang in Detailkritik halbherziger Mitte-rechts-Maßnahmen vertrieseln.
Sie muss so schnell wie möglich den Parlamentarismus beatmen und die Regierung mit konkreten eigenen Vorschlägen, Projekten, Gesetzesinitiativen quälen, zu denen die Bürger nicht Nein sagen würden, und so der SPD den Ausgang aus der langen Blamage zeigen. Es gibt viele Projekte – früher hätte man sie systemüberwindende Reformen genannt –, die schon lange strukturelle Mehrheiten im Land haben.
Einige davon sind auf dem Weg, wie die Rekommunalisierung von Gas und Wasser; andere brauchten Anstöße des Gesetzgebers. Hier eine kleine Auswahl: Abschaffung des Föderalismus im Schulwesen; eine Gesundheitsreform, die Prävention favorisiert; eine steuerfinanzierte Universalversicherung für Gesundheit und Rente, in die ausnahmslos alle Bürger einzahlen, entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit, und die endlich die strukturelle Ausbeutung der Familien beendet; eine Steuer- und Budgetpolitik, die Vermögen und hohe Einkommen stärker heranzieht, aber diese Veränderungen an konkrete Verbesserungen der Lebensqualität und der Zukunftsvorsorge aller Bürger knüpft (was juristisch problematisch, politisch aber möglich ist).
Es lassen sich noch mehr Projekte denken (die entsprechenden Taschenbücher sind alle geschrieben), die die Strukturen unseres Sozialstaats an eine veränderte Welt anpassen – auch umstrittene wie das Grundeinkommen oder die allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit.
Analysen ohne Polemik
Die Oppositionspolitik der nächsten Jahre ist daher nicht, sich im ständigen Nein zu schwarz-roten Notlösungen zu verschleißen, die dann durchgewinkt werden. Sondern die Regierungskoalition zu zwingen, selbst Nein sagen zu müssen – zu Vorschlägen, die vernünftig, konkret, populär und durchgerechnet sind. Und – das ist der schwierigere Teil – über die geredet wird.
Große Koalitionen lockern zwar die Fronten im Journalismus, aber die Strategie, mit vernünftigen Vorstößen den Medienschleier und den Zynismus der Chefkommentatoren zu durchlöchern, funktioniert, wenn überhaupt, nur mit unpolemischen, scharfen Analysen und ausformulierten Vorschlägen.
In den Stiftungen, die nach Böll und Luxemburg benannt sind, sitzen genug Wissenschaftler, die das können. Sie sollten sich schnell zusammentun und mit dem Wahlkampf beginnen. Vielleicht finden sich ja wieder ein paar wortstarke, fernsehtaugliche Intellektuelle, die Besseres vorhaben, als noch mal 80 Seiten „Empört Euch!“-Prosa abzuliefern, den Sozialstaat als Kleptokratie zu geißeln, die Schlachten der Vergangenheit zu schlagen oder gar: vom Wählen abzuraten.
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