Kolumne Materie: Liebeserklärung an die alte Tante „Times“
Was Tageszeitungen früher bedeuteten, hat unser Autor erst mit seiner Sommerlektüre kapiert. Jetzt greift Trump die wichtigste Zeitung der Welt an.
F ünf Wochen noch, Sie dürften bereits davon gehört haben, schließlich reden wir über kaum etwas anderes, dann erscheint die letzte gedruckte Ausgabe der Tageszeitung taz.
Das könnte Ihnen als Leserin der wochentaz erst mal egal sein, denn diese erscheint ja weiterhin gedruckt. Und trotzdem behellige ich Sie auch an dieser Stelle mit der sogenannten Seitenwende. Aber keine Sorge, Sie werden mich nur ein einziges Mal dabei erwischen, nostalgisch zu werden, und zwar heute.
Dabei ist die tägliche Arbeit an der gedruckten Zeitung ein anachronistischer Irrsinn. Jeden Tag müssen die Seiten im Minutentakt in die Druckerei geschickt werden. Texte werden nicht dann veröffentlicht, wenn sie rund sind, sondern wenn sie fertig sein müssen. Dabei lesen schon heute mehr Menschen die taz auf einem der digitalen Kanäle. In Zukunft, ohne die Bürde des Drucks, kann die taz dann hoffentlich beides sein, aktueller und ausgeruhter. Und damit endet dieser Werbeblock.
Denn ich bin trotzdem wehmütig, und das hat mit einer Sommerlektüre zu tun. Im Urlaub wollen ja alle „mal wieder ein gutes Buch lesen“, und eben nicht die Flut von schlechten Nachrichten. Für Journalisten ist das etwas beleidigend, deshalb habe ich in diesem Sommer ein Zeitungsbuch gelesen, den Roman „Jahrestage“ von Uwe Johnson. Und die Lektüre hallt immer noch nach. Man kann sich den Roman übrigens auch fantastisch vorlesen lassen, gesprochen von Charlie Hübner und Caren Miosga.
Der Roman ist vieles: Eine genaue Beschreibung des Aufstiegs der Nazis in Mecklenburg, ein Porträt von New York im Jahr 1968, eine wunderschöne Mutter-Tochter-Geschichte. Vor allem, und deshalb kommt er hier vor, ist er die schönste Liebeserklärung an eine Tageszeitung.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Der Roman zeichnet auf der ersten Zeitebene ein Jahr nach, jedes Kapitel beginnt mit den Nachrichten, die die New York Times an diesem Tag für ihre Leserinnen ausgewählt hat. Es ist der verzweifelte Versuch der Zeitung und ihrer eifrigsten Leserin, der Heldin des Romans Gesine Cresspahl, jeden Tag lesenderweise Ordnung in die unordentliche Welt zu bringen. Ein Versuch, der zum Scheitern verurteilt ist. Denn das Nebeneinander all der Nachrichten, über die Straßenkriminalität in New York, den Rassismus in Amerika, die neuesten Kriegsmeldungen aus Vietnam, ergibt keine Ordnung. Doch der Versuch zählt: Schritt zu halten, der Ereignisse eines Tages Herr zu werden.
Erst mit dieser Sommerlektüre habe ich kapiert, was Tageszeitung bedeutet, oder besser: früher bedeutet hat. Natürlich bieten auch Nachrichtenwebsites und Wochenzeitungen Orientierung. Aber was mit dem schleichenden Niedergang der Tageszeitung, großgeschrieben, unweigerlich an Wert verliert, ist die Zeitzeugenschaft. Die Nachricht, für die Websites kein Geld verlangen und nur noch das Grundrauschen bilden.
Wenn die taz zukünftig ausschließlich digital erscheint, wird das unseren Journalismus ändern. Das ist okay, wäre ja langweilig, wenn alles so bliebe, wie es ist. Aber kurz traurig sein darf man schon.
Heute, fast 60 Jahre nach den Jahrestagen, greift der US-Präsident die New York Times an, die wichtigste Zeitung der Welt. Er hat sie in dieser Woche auf 15 Milliarden Dollar Schadensersatz verklagt, vor allem aber will er sie einschüchtern und als Sprachrohr der Demokraten diskreditieren.
Als alte Tante wird die Times im Roman bezeichnet. Und wie das mit lieb gewonnenen Familienmitgliedern ist, Angriffe auf sie nimmt man persönlich. Die Freiheit der Presse wird vom mächtigsten Mann der Welt angegriffen. Und das ist viel bedrohlicher als die Frage, ob eine Zeitung auf Papier erscheint.
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