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Kolumne KonservativBlut, Schweiß und Clownstränen

Matthias Lohre
Kolumne
von Matthias Lohre

Rituale und Zeremonien sind was für Schwache. Dachte ich. Dann kam der Marathon. Und ich musste einsehen: Auch ich bin konservativ.

Wenn du es kaum noch erträgst, tragen dich die Rituale. Auch beim Marathon. Bild: reuters

A ls ich umgeben von Tausenden Leibern, schwitze, keuche und kaum noch klar denken kann, muss ich einsehen: Auch ich bin konservativ. Dabei hat die Sache ganz harmlos angefangen.

Denn eigentlich ist so ein Marathonlauf ja keine große Sache. Zumindest gefiel ich mir in der Pose desjenigen, der Freunden beim Kaffee sagt: Ach, so, der Marathon in Köln, ja, den laufe ich mit. Piece of cake, ist ja schon mein achtes Rennen.

Im Startbereich blicke ich mich um. Ein Clown mit roter Perücke und Make-up stellt sich neben mich. Er sagt, er mache das jedes Jahr so. Seine Antwort wirft weitere Fragen auf. Aus den Boxen dröhnt „Da simma dabei, dat is prima! Viva Colonia!“

Ich seufze. Gilt in Köln ein Gesetz, das Menschen verpflichtet, Karnevalsmusik zu hören, sobald sie neben einem anderen Kölner stehen? Merkwürdiger Zufall, denke ich: Alle hier sind vollkommen verrückt. Außer mir.

Warum Zeremonien?

Warum tun Leute so was, frage ich mich. Warum die jährliche Clownsmaskerade? Warum die Schunkelhilfe in Liedform? Woher rührt die Freude an der Wiederkehr des Immergleichen? Die Antwort liefert der Zeit-Journalist Ijoma Mangold:

„Alles Zeremonielle bereitet dem Konservativen große Freude. Zeremonien und Rituale sind etwas, das man unter Effizienz- und Rationalitätsprinzipien kaum rechtfertigen kann. Sie sind überflüssig, umständlich: Hokuspokus. Zugleich sind sie aber das, was die Blöße des Individuums, die Nacktheit seiner Existenz, gnädig bedeckt. Für diese Nacktheit der menschlichen Existenz hat der Konservative ein ausgeprägtes Sensorium. Es geht bei ihm einher mit einem antiindividualistischen Vorbehalt.“

Ich bin nicht konservativ, denke ich während der ersten 32 Kilometer. Dem Individuum Matthias geht es blendend. Auf sich gestellt, kommt es sehr gut klar. Es braucht keine Zeremonien und Rituale. Dann kommen die letzten zehn Kilometer.

Die Lunge weigert sich, die Herbstluft einzusaugen, und die Füße, den Asphalt zu verlassen. Ich fühle mich allein. In diesem Moment fällt mir auf, dass eine Band am Straßenrand Karnevalsschlager spielt: „Da simma dabei, dat is prima! Viva Colonia!“ Der Rhythmus des Liedes passt sich blendend meinem Lauftempo an. Vielleicht ist es auch umgekehrt. Die Lungenflügel öffnen sich. Ich blicke auf und sehe: Die Menschen am Straßenrand lächeln mich an, klatschen, jubeln mir zu. Plötzlich werden meine Beine leicht.

Darum Zeremonien!

Die immer gleichen Rituale und Zeremonien tragen mich. Das Wissen darum, dass die letzten Kilometer immer so grässlich sind. Das Klatschen der Passanten, die jedes Jahr jubeln. Die Aussicht auf den Zieleinlauf am – na, klar – Dom. Glücklicherweise merke ich erst kurz vorm Ziel, dass die Menschen gar nicht mir zugejubelt haben: Hinter mir läuft der geschminkte Mann mit der Perücke. Ich war noch nie so froh, dass ein schwitzender Clown hinter mir herrennt.

Ich laufe durchs Ziel. Geschafft. Wie immer. Nächstes Jahr bin ich natürlich wieder dabei, dat wird prima. Und dann gibt es wieder eine Marathon-Glosse. Traditionen soll man pflegen. Wo kauft man eigentlich Perücken?

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Matthias Lohre
Schriftsteller & Buchautor
Schriftsteller, Buchautor & Journalist. Von 2005 bis 2014 war er Politik-Redakteur und Kolumnist der taz. Sein autobiographisches Sachbuch "Das Erbe der Kriegsenkel" wurde zum Bestseller. Auch der Nachfolger "Das Opfer ist der neue Held" behandelt die Folgen unverstandener Traumata. Lohres Romandebüt "Der kühnste Plan seit Menschengedenken" wird von der Kritik gefeiert.
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2 Kommentare

 / 
  • HP
    Hendrik Paul

    Schöner Artikel! Aber ich widerspreche: "Rituale und Zeremonien sind was für Schwache. (...) Zeremonien und Rituale sind etwas, das man unter Effizienz- und Rationalitätsprinzipien kaum rechtfertigen kann. Sie sind überflüssig, umständlich: Hokuspokus." Das stimmt meines Erachtens nach so gerade gar nicht. Zeremonien und Rituale können, gerade in der Politik, Ausdruck von Macht, Einfluss, Relationen, Stand, Ansehen, Herrschaft etc. sein. Ob Rituale selbst "Macht haben", ist umstritten, aber sie sind keineswegs irrational. Ganz im Gegenteil, wie auch der Autor nach eigener Aussage im Verlauf des Marathons zu spüren bekommt. Ich habe den Marathon übrigens als schöne Analogie zum Leben als solches wahrgenommen: Werden wir Menschen nicht in der Regel im Laufe unseres Lebens zunehmends konservativ? Ist das eigentlich schlecht? Was meint der Begriff "konservativ" eigentlich? Muss nicht jeder älter werdende und dabei lernende Mensch in seinem Leben Dinge, Personen und Werte finden, an die er sich festhält, die er bewahren will? Auch an z.B. linksradikalen Positionen stringent und verbissen festzuhalten, ist ja eigentlich, nicht im politischen, aber im soziologischen Sinne: konservativ. Daher stimme ich mit dem Autor überein: Wir sind alle konservativ. Und füge an: Konservativ ist, was du draus machst!

  • R
    ridicule

    Große Budengasse/Ecke Marspfortengasse

    oder

    Gottesweg 145

    und

    an jeder Ecke sonst€;•))

    &

    Marathon - geht's noch?